Das Babysitter (Der Doktor)

Das Babysitter

Es
ist allgemein bekannt, dass transdimensionale Reisen ganz alltägliche Phänomene
sind.

Doch… woher ist es bekannt?
Wesen im gesamten Universum reisen nahezu täglich durch Zeit und Raum –
die meisten von ihnen sind natürlich nicht besonders glücklich darüber,
weil sie dann immer mit irgendwelchen Weltenrettungsaktionen beauftragt werden,
die zwar eh gut ausgehen, aber dennoch eine Menge unnötigen Stress bereiten
und größtenteils auch noch schlecht geschrieben sind.
Und das beantwortet auch gleich unsere Frage, woher denn das Wissen um transdimensionale
Reisen als alltägliches Phänomen stammt – wenn so viele Leute
Bücher und Romane über etwas wie transdimensionale Reisen schreiben,
dann muss doch an der Sache etwas dran sein, nicht wahr?

Fakt ist, dass nur ein Bruchteil der Autoren wirklich an das Phänomen der
alltäglichen transdimensionalen Reise glaubt.
Fakt ist, transdimensionale Reisen sind ein alltägliches Phänomen.
Man könnte nun fragen, was zuerst dagewesen sei – die transdimensionalen
Reisen oder die Geschichten über sie, aber das wäre dann doch zu sehr
an den Vorgänger dieser Geschichte angelehnt und sowieso eigentlich nur
vollkommen langweilig.

Die
Person, von der jetzt hier die Rede sein soll, kümmerte sich natürlich
ebenfalls nicht um solche Fragen.
Dennoch war sie sich nicht dessen bewusst, dass sie sich gerade auf einer transdimensionalen
Reise befand, denn diese beginnen meistens in einem Wald, in einem See oder
an irgendeiner anderen aus der Heimatwelt des Reisenden bekannten landschaftlichen
Gegend.
Als der anfangs erwähnte Herr durch den für ihn ganz normal erscheinenden
Wald wanderte, traf er sogar auf ihm bekannte Tiere, also Viehzeugs wie Rehkitze,
Hoppelhäschen und eine Horde ausgehungerter, blutrünstiger Wölfe.
Jene war auch der Grund, warum unser Reisender sein Gehtempo etwas beschleunigte
– ob nun Heimatwelt oder nicht, niemand landet gerne in den Mägen
von sieben ausgehungerten Wölfen.

Diese Geschichte soll natürlich nicht zu einem vorzeitigen Ende kommen,
von daher wurde unser Dimensionsreisender auch auf wundersame Weise im letzten
Moment gerettet. Der letzte Moment markierte die Stelle, an der der Fliehende
mitten auf einer Lichtung stolperte, sich flach auf den Boden legte und sich
in panischer Angst umdrehte, um seinem unausweichlichen Schicksal in die Augen,
beziehungsweise in die Mäuler zu schauen.
Ihm eröffnete sich das Bild des Wolfsrudels, wie es genau am Rande der
Lichtung zum Stehen kam, wütend über die anscheinend verloren gegangene
Mahlzeit enttäuschtes Geheul anstimmte und nicht minder enttäuscht
umdrehte, um abzuziehen.
Unser Protagonist konnte sein Glück natürlich nicht fassen und drehte
sich dann um, um sich über die Ursache dieser so überraschenden Wendung
seines kleinen Abenteuers zu erkundigen.

Hinter ihm auf der Lichtung stand eine Person, die in ihm erstmals Zweifel darüber
aufkommen ließen, sich noch auf der richtigen Welt zu befinden. Andererseits
gibt es selbst auf den am höchsten entwickelten Welten immer noch Leute,
die sich in lange, schwere, bunte Roben kleiden und als halbverrückte Einsiedler
mit langen Bärten in von hungrigen Wölfen verseuchten Wäldern
abseits der Zivilisation leben, um allen Vorbeikommenden doppeldeutige Sprüche
unterzujubeln, die eigentlich nur gut klingen, die Betroffenen jedoch meist
stundenlang über das eben Gesagte nachgrübeln lassen. Meistens finden
sie dann sogar einen Sinn in diesen Sprüchen, worauf die Einsiedler dann
immer sehr stolz sind.
Solch ein Exemplar der Rasse, die wir normalerweise als „Mensch“
bezeichnen, stand jedenfalls hinter unserem Reisenden und schaute ihn weise,
beziehungsweise halbverrückt an, das ist ja auch eine Sache des Standpunktes.

Unser Reisender kann natürlich auch sprechen, und da jetzt ein guter Zeitpunkt
war, um den ersten Dialog dieser Geschichte zu beginnen, sagte er:
„Wie haben sie… warum… ähm… danke!“
Auch der Einsiedler konnte anscheinend sprechen, und er erwiderte in derselben
Sprache und in sanftem, zumindest weise klingenden Tonfall schlicht:
„Folge mir!“
Der Reisende sah sich in seinen Handlungsmöglichkeiten daraufhin sehr beschränkt
und beschloss weiserweise, sich aufzurappeln und dem Einsiedler zu folgen.

„Wie haben sie das gemacht? Das mit den Wölfen…“, fragte
er.
„Das tut nichts zur Sache. Viel wichtiger ist doch die Frage: Warum bist
du hier? Und vor allem: Wo bist du?“
„Nun, die erste Frage ist einfach zu beantworten. Ich wollte eigentlich
nur kurz in den Wald gehen, um mal zu pinkeln. Wo ich jetzt bin, kann ich mir
ehrlich gesagt nicht vorstellen, aber ich wäre ihnen ganz dankbar, wenn
sie mich zur Straße zurückführen würden, damit ich mein
Auto suchen gehen kann.“
Der Einsiedler sah ihn mit einer Mischung aus milder Belustigung und einer Prise
Traurigkeit an.

„Ich fürchte, wir werden dein… ähm… Au-to hier in der Gegend
nicht finden. Ich fürchte außerdem, dass du dich gar nicht mehr auf
der Welt befindet, die du als deine Heimatwelt bezeichnet.“
„Einen Moment, was wollen sie damit sagen? Meinen sie etwa, dass mein
Auto hier gar nicht mehr in der Nähe ist?“
Der Alte nickte.
„Und sie wollen mir allen ernstes verklickern, dass ich mich auf einer
fremden Welt in einer fremden Dimension oder so befinde?“

Der Alte nickte.
„Und sie denken wirklich, dass ich ihnen diesen Schwachsinn abkaufe?“
Der Alte nickte.
Unser Reisender schüttelte ungläubig den Kopf und schaute sich den
Einsiedler noch mal von oben bis unten an. Dann kam er zu einem Entschluss und
sagte:
„Oh, kacke Mann!“

Dies
ist ein wunderbarer Zeitpunkt, um all die faszinierenden Phänomene einer
transdimensionalen Reise einmal kurz zusammenzufassen.
Zunächst ist es erstaunlich, dass die Welt, in die ein transdimensional
Reisender versetzt wird, immer dieselben Klimabedingungen vorweist wie die Heimatwelt
des Betroffenen. Bisher ist jedenfalls noch niemand bei solch einer Reise durch
beispielsweise akuten Mangel an Sauerstoff in der Atmosphäre umgekommen.
Ebenfalls auffällig ist das Existieren gewisser, anscheinend universell
gültiger Tier- und Pflanzenarten. So wird man in jedem Wald jeder Parallelwelt
Kiefern und Tannen sowie die bereits erwähnten Rehe, Hasen und natürlich
die ausgehungerten Wölfe antreffen… wenn man Pech hat.
Viel interessanter und vor allem viel erstaunlicher als diese beiden Tatsachen
ist jedoch die ebenfalls universelle Existenz einer Lebensform, die wir als
„Mensch“ bezeichnen. Die meisten Parallelwelten haben außerdem
noch dem Menschen sehr ähnliche Lebensformen vorzuweisen, die dann meistens
„Zwerge“ oder „Elfen“ genannt werden.

Am erstaunlichsten mag einem jedoch die Tatsache erscheinen, dass die sprachbegabten
Wesen dort, wohin man durch eine transdimensionale Reise hinversetzt wird, immer
die eigene Sprache sprechen!
Wissenschaftler einer hochentwickelten Welt versuchten einst, dieses Phänomen
zu erklären, scheiterten jedoch daran, einen Namen dafür zu finden
und gingen, für immer zerstritten, auseinander.
Ein Dimensionsreisender gelangte einmal aufgrund all dieser Tatsachen zu folgendem
Ergebnis:
Wenn die Umgebung, die Wesen, die Sprache und sonst auch alles andere dem Reisenden
bereits vertraut ist, so kann es sich nur um Einbildung handeln, um einen schlechten
Traum, um eine eingebildete Realität, die jedoch niemals stattgefunden
hat.

Das erklärte zwar nicht, was mit den Leuten geschah, die von ihren Reisen
nicht zurückkehrten (worüber es auch wieder Theorien wie „Der
Körper kann ohne den Schweiß nicht leben… nein, es war nicht der
Schweiß, Moment…“), in der Heimatwelt dieses Menschen wurde diese
Theorie dennoch zu einem gigantischen Erfolg, als der Reisende zusammen mit
seinem Bruder eine Dokumentation über diese Reise in die fremde Welt drehte,
die von den meisten Leuten, die sie sahen, jedoch für einen Unterhaltungsfilm
missverstanden wurde.

Nun,
dieser Reisende hat nichts mit unser momentanen Hauptfigur zu tun, zu der wir
nun nach diesem kleinen Exkurs wieder zurückkommen möchten.

Er war nun schon eine ganze Weile neben dem Einsiedler nebenher gelaufen und
stellte, halb ihm, halb sich selbst, folgende Fragen:
„Wie bin ich hier hergekommen?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wie komme ich wieder zurück?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Warum gerade ich?“

„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wer ist dieser Ihm eigentlich?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
„Die Antwort wirst… bitte, was?“
„Wollte nur mal sehn, ob sie mir auch zuhören…“

Mit diesen Antworten musste sich unsere Hauptfigur zunächst mal zufrieden
stellen und nun der Dinge harren, die da noch kommen mochten. Es dauerte zum
Glück nicht lange, bis der Alte mit ihm vor einem großen Loch in
einer mitten im Wald liegenden Felswand ankam, welches so dunkel und finster
war, wie es eben nur große Höhleneingänge mitten im Wald sein
können. Von dem Eingang weg führte eine Art breiter Trampelpfad, der
darauf schließen ließ, dass öfter in diese Höhle hinein
und aus ihr hinaus gegangen wurde.
„Dort drinnen wird Er auf dich warten und dir deine Bestimmung in dieser
Welt mitteilen.“, sprach der Alte mit theatralisch ausgestrecktem Arm.

„Sie meinen, dort drinnen wird mir erzählt werden, dass ich so ein
seit langer Zeit erwarteter Mann-zwischen-den-Welten bin, der jetzt seine Bestimmung
ergreifen und gegen das Übel kämpfen soll, dass diese Welt befallen
hat und sie vermutlich vernichten wird, sollte ich nicht einschreiten? So was
in der Richtung?“
Der Alte sah ihn milde lächelnd an und sprach dann:
„Nun, vielleicht wird es nicht ganz so schlimm…“
Der Reisende drehte sich zu dem Höhleneingang um, atmete einmal tief ein
und aus und setzte sich dann mangels sinnvoller alternativer Möglichkeiten
in Bewegung, um diesen Er mal aufzusuchen.

Die dunkle Höhle zeichnete sich durch kühle Feuchtigkeit aus, die
normalerweise dunkle Höhlen auszeichnet, die sehr kühl und feucht
sind. Dennoch war sie nicht vollkommen finster – der Reisende konnte einen
Lichtschimmer am Ende des Ganges, in dem er sich gerade befand, ausmachen. Wie
er bald herausfinden sollte, stellte dieser Lichtschimmer den Fackelschein dar,
der eine Höhle von riesigen Ausmaßen gleichmäßig erhellte.
Und in dieser Höhle lag Er – ein Anblick, der unseren Reisenden verblüfft
stehen ließ, da es sich hierbei um etwas handelte, was längst nicht
auf allen Welten des interdimensionalen Reiseverkehrs vorzufinden ist. Er öffnete
die Augen und starrte den Reisenden mit einem Blick an, der wahrscheinlich Stahl
hätte zum Schmelzen bringen können – zum Glück war keiner
in der Nähe. Unser Protagonist machte sich lediglich in die Hosen.

Dann fing Er an zu sprechen. Es war laut. Sehr laut. Doch irgendwas, was das
folgende Klingeln in seinen Ohren nur schwach übertönte, sagte dem
Reisenden, dass Er es auch wesentlich lauter hätte sagen können.
Er sagte:
„Komm näher!“
Solch einer Stimme verweigert man keinen Gehorsam. Das begriffen die Beine unseres
Reisenden schneller als sein Kopf und setzten sich in Bewegung, um in geringerem,
aber dennoch nicht respektlosen Abstand vor Ihm stehen zu bleiben.

Dann fing Er erneut an zu sprechen:
„Lass mich raten: Du bist ein Reisender aus einer fremden Dimension von
einer anderen Welt. Du bist in dieser Welt gelandet und wurdest von einem Rudel
hungriger Wölfe durch den Wald verfolgt. Dann wurdest du von einem alten
Einsiedler gefunden, der dich zu mir geführt hat.“
Es sah so aus, als müsste unser Reisende trotz schmerzhaft pulsierender
Trommelfelle nun irgendwas sagen. Folgender Satz erschien ihm recht angemessen:
„Woher… könnt ihr all das wissen?“
Der Kopf von Ihm setzte sich in Bewegung, um kurz vor unserem Reisenden zum
Stillstand zu kommen, worauf dieser sehr erstaunt gewesen wäre, wie viel
Stoff sich noch in seiner Blase befand, wäre er nicht viel zu sehr damit
beschäftigt gewesen, seine Körperfunktionen am Laufen zu halten, damit
er nicht einfach vor Angst wegstarb.

Und Er sprach ein weiteres mal:
„Dieser Einsiedler hat sich zu mir geführt. Warum? Weil ich ihn dafür
bezahle!“

Kalessan
mochte transdimensional Reisende.
Sie schmeckten wie die Menschen seiner eigenen Welt und ihr Tod zog keinerlei
nervende Konsequenzen wie räuberische Racheritter mit sich. Außerdem
wurden dadurch die Dörfer seiner Umgebung ein wenig entlastet.
Nachdem er fertig war, erinnerte er sich daran, dass er den Alten wohl demnächst
für seine Dienste einmal mehr bezahlen musste. Vielleicht sollte er die
Wölfe für ihre gute Arbeit auch mal wieder belohnen…

Er beschloss, diese Angelegenheiten auf später zu verschieben und legte
sich wieder hin. Kurz bevor er einschlief, lobte er sich selbst einmal mehr
für die sehr gute Investition in das Dimensionsportal direkt im benachbarten
Wald.

Dies
ist im übrigen keine Geschichte über das transdimensionale Reisen.
Oh nein, es ist viel schlimmer!

Es
ist eine Eigenart der Menschen, selbst die positivste und friedlichste revolutionäre
wissenschaftliche oder soziologische These, Theorie, Erkenntnis oder Abhandlung
zu kriegerischen Zwecken zu missbrauchen. Seit jemandem mal ein Apfel auf den
Kopf fiel und der Betroffene sich dachte „Ui! Schwerkraft!“, fingen
Menschen sofort damit an, Menschen von Burgmauern aus Steine auf die Rübe
zu werfen (wobei erwähnt werden sollte, dass die Menschen, die sich der
jeweiligen Burgmauer näherten meistens ebenso wenig friedliche Absichten
im bald etwas flacher aussehenden Kopf hatten… mit einigen tragischen Ausnahmen
natürlich) – oder, noch schlimmer, goldene Münzen von hohen
Türmen, nur um zu sehen, was passiert…

Karlmax‘ revolutionäre These war von diesem Schicksal bisher verschont
geblieben – wobei sie den Frieden zwischen den Menschen ja nicht gerade
predigte… Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Menschen es langweilig
fanden, sich an die Regeln einer bereits kriegerischen These zu halten –
wo blieb denn da der Spaß? So kam es, dass Karlmax durch seine Theorie
weltberühmt wurde und viele Tourneen veranstaltete, um Vorträge über
seine revolutionären, die Gesellschaft der Menschen verbessernden Gedanken
zu halten. Die Menschen hörten dabei immer interessiert zu, waren begeistert
und honorierten jeden von Karlmax‘ Auftritten mit donnerndem Applaus –
nur hatte anscheinend niemand so richtig Lust dazu, der erste zu sein, der diese
revolutionären Ideen auch umsetzte.

Um jene Ideen soll es in dieser Geschichte jedenfalls ebenfalls nicht gehen.

Karlmax
befand sich jedoch gerade kurz vor einer Tournee in entfernte Länder, um
viele, schon jetzt vollkommen ausverkaufte Vorträge zu halten. Dabei hatte
er jedoch zwei Probleme:
Seine Frau und seinen Sohn.
Rita, die Stählerne, wie sie sich selbst nannte, war die perfekte Ergänzung
zu Karlmax‘ Charakter: Impulsiv, aggressiv, stark, direkt und dickköpfig
dominierte sie ihren Mann vollständig, was diesem aber nicht viel ausmachte,
da er sich selbst nicht gerade zur Führungspersönlichkeit geboren
sah und beruhigt war, wenn es eine Instanz über ihm gab, die die ganze
Verantwortung trug und nicht ihn damit belastete.

Dies war jedoch noch nicht das Problem. Karlmax bestand nämlich darauf,
seine Frau Rita auf der Tournee bei sich zu haben – und das nur teilweise
aus Liebe zu seiner Gefährtin. Als persönliche Beschützerin machte
sie sich dank ihrer selbst gegenüber vielen Männern überlegenen
Muskelkraft nämlich gar nicht schlecht.
Nur leider bestand sie darauf, dass ihr gemeinsamer Sohn Ninnel nicht auf die
Reise mitkommen dürfe, wodurch sich das eigentliche und damit größte
Problem ergab:

Wohin mit dem Jungen?
Der achtjährige Ninnel war schon mehrfach durch sein… nun, rebellisches
Verhalten aufgefallen und gegenüber zahlreichen Verwandten durfte man seinen
Namen noch nicht mal erwähnen, wollte man nicht riskieren, sofort aus dem
Haus geworfen zu werden… womöglich noch aus einem Fenster im vierten
Stock…
„Was ist mit den Dusseleys?“, fragte Karlmax.
„Ich fürchte, die sind nach unserem Besuch letzten Sommer nicht mehr
so gut auf unseren Kleinen zu sprechen, Schatz. Außerdem ist der Angriff
durch diesen Assassinen kurz nach unserem Aufenthalt dort erfolgt, weißt
du noch?“

„Hast Recht, mein Haselschnäuzchen…“
„NENN mich nicht Haselschnäuzchen!“, giftete seine Frau ihn
an.
„Ähm… ja, Rita…“, Karlmax senkte demütig den Blick,
als ihm ein Einfall kam:
„Was ist mit Sally? Du kennst sie ja… ähm… ein bisschen… sie
könnte mit Ninnels… Eigenarten sicherlich fertig werden.“

Ritas Stimme schnitt so scharf durch die Luft, dass sich Karlmax damit seinen
Bart hätte abrasieren können:
„Ich lasse nicht zu, dass MEIN SOHN bei einer so unflätlichen Frau
einquartiert wird! Sie mag noch so nett sein, aber ihr Berufsstand übt
bloß einen schändlichen Einfluss auf unseren süßen Kleinen
aus!“
„Aber ich habe dich doch bei ihr kennen gelernt, Liebste!“

„Das ändert nichts daran, dass es ein für unseren Jungen schändliches
und unmoralisches Etablissement ist! Weitere Vorschläge?“
Karlmax wusste, dass die Diskussion um das Thema Sally beendet war und kramte
in seinem Gedächtnis weiter nach Möglichkeiten zur Unterbringung seines
Sohnes… jedoch gingen ihm so langsam die Ideen aus. Einen Namen hatte er noch:
„Was ist mit Tante Peggy? Hat sie unseren Kleinen schon mal kennen gelernt?
Bei ihr wäre es doch außerdem gar nicht so schlimm, wenn wir es uns
mit ihr verderben würden…“

„Peggy? Nein, die kommt nicht in Frage. Sie ist doch tagtäglich so
sehr mit dem Schmachten über diesen Schauspieler… wie hieß er noch
mal? Genau, dieser Schauspieler Droca…“ – *pling* – „Sie ist doch
so sehr mit ihm beschäftigt und deswegen immer so neben sich, dass unser
Kleiner bei ihr wahrscheinlich verwahrlosen und verhungern würde… Sag
mal, ist was mit dir?“
Karlmax starrte ins Leere. In seinem Kopf machte es immer *pling*, wenn sich
eine neue, bahnbrechende Idee anbahnte.
„Welchen Namen hast du gerade noch mal genannt?“

„Droca, der Schauspieler… Kennst du ihn nicht?“
Karlmax wusste zwar nicht, wo Droca lebte und wie er ihn erreichen konnte. Doch
dafür kannte er jemand anders… *pling*
„Hast du dieses Geräusch gerade auch gehört?“, fragte
Rita.
Eigentlich war der Gedanke vollkommen wahnsinnig. Er war sogar so wahnsinnig,
dass sich Karlmax fragen musste, ob er selbst nicht bereits wahnsinnig war,
wenn er auf solch wahnsinnige Gedanken kam. Konnte er seinen Sohn wirklich diesem
alten Freund anvertrauen? Wobei sich die Frage stellte, ob er noch sein Freund
war… beziehungsweise, ob er wirklich jemals wirklich sein Freund gewesen war…
Nun, eigentlich hatte er sich gegenüber Karlmax bei seinem Besuch immer
ganz nett benommen… aber würde das auch für seinen Sohn gelten?

Die Schwärze von Karlmax‘ Gedankenwelt wurde jäh von einem lautstarken
Rufen unterbrochen:
„Paaaapaaaaa, bin wieder Zuhaaaaauuuseeeee!“
Das Rufen ertönte direkt neben Karlmax Ohr, worauf dieser nicht vorbereitet
war, erschrocken umkippte und mit dem Hinterkopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlug.
Sekunden später traf eine gigantische Faust auf seinen Unterleib und nagelte
ihn fest.
Als Karlmax wieder Luft bekam und er statt vollkommenster Schwärze wieder
zumindest verschwommene Bilder sehen konnte, eröffnete sich ihm das Bild
seines Sohnes Ninnel, wie dieser auf seinem Unterleib saß.

Während Karlmax nur schmerzhaft und leise aufstöhnen konnte, lächelte
Rita die beiden liebevoll an und sagte:
„Na, ich lasse euch beiden dann mal alleine und bereite das Abendbrot
vor – so lange dürft ihr dann noch miteinander spielen. Und Karli
– überlege dir dann bitte noch schleunigst eine Lösung für
unser kleines Problem, ja?“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging aus dem Raum hinaus in Richtung
Küche.

„Oh toll, Papa, wir spielen! Du bist das Pferd und ich bin der Reiter,
ja?“, rief der Junge überschwänglich in unerträglicher
Lautstärke.
Karlmax sah auf die Schuhe seines Sohnes – er hatte wieder die Stiefel
mit den echten Sporen angezogen…
„Ja, Ninnel!“, stöhnte er auf – Sohn hin oder her, dachte
er, dieser Junge sollte seine Eltern doch mal wieder schätzen lernen! Vielleicht
wäre die Methode ein wenig radikal und riskant, doch sicherlich nicht unwirksam…

Als er sich umgedreht hatte, rief sein Sohn „Hü-hott!“ und
trat mit den Sporen zu.
Mit einem gedämpften Schmerzensschrei trat Karlmax seinen allabendlichen
Leidensweg an und hielt sich nur mit dem Gedanken am Bewusstsein, wie er seinen
Plan seiner Frau verklickern sollte…

Zur
gleichen Zeit machten sich die berühmten Helden Rimorob, der Krieger, Fladnag,
der Magier, Oblib, der Halbling und Salogel, der Elf daran, ein Land von der
schrecklichen Kreatur zu befreien, die man nur den „roten Schrecken“
nannte. Dass es sich hierbei um eine sehr klassische Gruppe aus hochstufigen
Abenteurern handelte, konnte man daran erkennen, dass sie mehr Wert auf Stil
als auf Effektivität bei der Arbeit legten. So glänzte Rimorobs Rüstung
selbst bei absoluter Dunkelheit in einem funkelnden Licht, was einem eher sinnlosen
elfischen Zauber zu verdanken war, aber mehrere 1000 Orks beim Bergen jenes
Artefakts das Leben gekostet hatte. Und Salogel glich mehr einer wandelnden
Frisur als einem todesmutigen Helden, der mal eben nebenbei mit einem Langbogen
einer Fliege ein Auge ausschießt. Was Salogel an Haaren hinten hatte,
besaß Fladnag vorne am Kinn, hierbei sei jedoch erwähnt, dass es
sich um ein gewaltiges Haartransplantat handelte, da der Magier erst 32 Jahre
alt war. Oblib war leider zu klein für jegliche Art von Haaren an anderen
Stellen außer auf seinem Kopf und vor allem an seinen Füßen,
erwies sich im Kampf dennoch sehr nützlich darin, Gegnern in Stellen zu
beißen, wo es wirklich weh tat…

So exzentrisch sie auch erscheinen mögen, viele solcher Heldengruppen bringen
es merkwürdigerweise immer wieder zu großen Erfolgen, viel Geld und
einem Maß an Arroganz, das jeden Adligen als bescheiden und schüchtern
darstellt.
Und jene berühmte Runde war nun daran, ihren Ruhm und vor allem ihren Reichtum
beträchtlich zu vermehren.
„Eeeyy, du bist mir auf meine Haare getreten!“, beschwerte sich
Salogel.

„Und du mir auf meine – ausgleichende Gerechtigkeit!“, erwiderte
Fladnag, „Warum ist es hier auch so dunkel drinnen?“
„Ruhe!“, rief Rimorob dazwischen, „Wir müssten gleich
in der Haupthöhle sein! Bleibt dicht zusammen – hast du gehört,
Oblib?“

„Ja, Papa!“, kam die piepsige Antwort in spottendem Tonfall.
Rimorob blieb stehen.
„Das hier ist kein Zuckerschlecken, das ist vielleicht die größte
Herausforderung unserer Heldenkarriere, ich verlange also absolute Konzentration
von euch allen!“
„Hatten wir denn je eine richtige Herausforderung?“, tönte
es aus Salogels Richtung, „Von den Viechern haben wir doch auch schon
ein halbes Dutzend umgebracht.“

„Ja, aber der hier soll ein bisschen größer sein als die anderen…
zumindest hat das die Olle gesagt, die uns diesen Auftrag gegeben hat.“
Darauf entgegnete Oblib:
„He he, Frauen, die übertreiben es doch immer, wenn es um Männerangelegenheiten
wie das Bekämpfen von Dr…“
„Halt den Mund“
„Kommt es nur mir so vor, oder stinkt es hier wirklich ganz gewaltig?“,
fragte Fladnag.

„Scheint an diesem merkwürdigen Luftzug zu liegen…“
„Das hält ja kein Mensch aus!“
„Oder Elf…“, meldete sich Salogel zu Wort.
„Ja ja oder Elf…“
„Und was ist mit mir?“, fragte Oblib.

„Halt den Mund!“, entgegnete Fladnag und fügte hinzu:
„Hm, das scheint eine Tropfsteinhöhle zu sein, seht euch mal diese
ganzen Stalagmiten und Stalaktiten an!“
„Welche waren denn noch mal welche?“, fragte Oblib.
„Klappe! Hier scheint auch irgendwo die Quelle dieses Luftzugs zu sein…“
„Uääähhh, diesen Gestank ertrage ich nicht länger!“,
stöhnte Salogel herum.

„Aber warum haben diese Stalaktiten so eine seltsame Anordnung…? Die
Farbe scheint auch nicht zu stimmen, soweit man das in diesem diffusen Licht
sagen kann.“
Rimorob meldete sich zu Wort:
„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, wie weich der Boden auf einmal
geworden ist?“
Die Gefährten sahen sich in dem diffusen Licht unsicher an. Der übel
riechende Luftzug umwehte sie in gleichmäßigen Abständen dröhnend
in dieser unheimlichen Stille.

„Lasst uns ein wenig mehr Licht riskieren!“, sprach Fladnag und
ließ den Kristall am Ende seines Zauberstabs erleuchten. Über den
folgenden, einmaligen Anblick verlor er nur ein Wort:
„Oh!“
Kalessan schluckte.

„Und
du bist dir sicher, dass dieser Herr… wie hieß er noch mal, Schatz?“

„Kalessan…“
„…dass dieser Kalessan unseren Liebling auch annehmen wird?“,
erkundigte sich Rita bei ihrem Mann und versuchte, das laute Quietschen der
Kutschenräder und das Hufgetrappel der Pferde zu übertönen.
„Nein, ich bin mir ganz und gar nicht sicher – aber er ist unsere
einzige Chance… Ninnel, hör bitte damit auf, mit deinem Messer die Kutsche
zu zerkratzen! Außerdem ist er der einzige, der es mit dem… impulsiven
Charakter unseres Sohnes aufnehmen kann.“

„Und warum wohnt er mitten im Wald?“
„Nun… er ist ein Einsiedler?“, entgegnete Karlmax vorsichtig.
„Ein Einsiedler? Unser Sohn soll bei einem Einsiedler
wohnen? Bist du denn von allen Sinnen?“
„Schatz, ich habe dir gesagt, er ist unsere einzige Chance. Wir können
jetzt nicht mehr zurück – wir haben eh schon Glück, dass seine
Behausung ungefähr auf dem Weg liegt. Und sieh es doch mal von der positiven
Seite: Unser Sohn lernt die Natur kennen, lernt, wie er alleine in der Wildnis
überleben kann und verbringt ein paar wildromantische Wochen – nicht
wahr, Ninnel?“

„Ich will nicht zu so einem doofen Einsiedler!“, sagte Ninnel und
begann wieder, mit seinem Messer obszöne Muster in das Holz der Kutsche
zu gravieren.
„Ninnel, ich habe gesagt, du sollst damit aufhören! Sag du doch auch
mal was, Rita!“, wandte sich Karlmax verzweifelt an seine Frau, als sein
Sohn keine Anstalten machte, den Befehl des Vaters zu befolgen.
„Schatz, hör bitte auf damit!“, sagte Rita, woraufhin Ninnel
sie kurz anglotzte, um dann das Messer in seine Tasche zu stecken und seinen
Vater durchdringend anzustarren.
Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stehen und das andauernde Quietschen
und Hufgetrappel wurde durch lautes, panisches Wiehern ersetzt.

„Oh, ich fürchte, wir sind bald da!“, ließ sich Karlmax
vernehmen und stieg aus dem Gefährt aus.
Um ihn herum erstreckte sich der düstere, verlassene und erschreckend ruhige
Wald. Jedenfalls hatte Karlmax das Gefühl, dass er erschreckend ruhig werden
würde, wenn die Pferde mit ihrem Gewieher aufhörten.
„Die Pferde wolln nich weiter, Sir, weiß auch nich, warum.“,
sagte der Kutscher, ein dreckiger, abgetakelter Unhold mit grauenhaftem Akzent,
der für sämtliche Neudorfer, die beruflich in irgendeiner Form mit
Pferden zu tun hatten, absolut typisch war.

„Ähm, das geht schon in Ordnung, Herr Kutscher, wir gehen ab hier
zu Fuß weiter. Fahrt ihr doch einfach ein wenig zurück, bis die Pferde
sich wieder beruhigt haben und wartet dort auf uns. Sollten wir in… einer
Stunde noch nicht wieder zurück sein, dann fahrt einfach wieder zurück
nach Neudorf und behaltet das Geld – und, wenn ich euch einen Rat geben
darf, fahrt schnell!“, mit diesen Worten warf Karlmax dem Kutscher ein
Beutel mit Gold zu, was normalerweise ein todsicheres Mittel ist, um einen Neudorfer
Kutscher seltsame Befehle ohne Fragen ausführen zu lassen… normalerweise…
„Hoi… und warum so viel, Sir?“, erkundigte sich der Kutscher.
„Ähm… Gefahrenzulage!“

„Ah… Darf man auch erfahrn, warum so viel, Sir?“
Karlmax warf einen Blick auf seine Familie, die eben aus der Kutsche ausgestiegen
war und sagte:
„Nein! Deswegen ist es auch so viel.“
Das reichte dem Kutscher anscheinend, der mit einem Achselzucken die Kutsche
mit den scheuenden Pferden auf dem Waldweg (welcher übrigens merkwürdig
breit war und so aussah, als würde er regelmäßig benutzt werden)
wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.

„Könntest du mir mal bitte erklären, was hier los ist?“,
giftete Rita ihren Mann mit in die Seiten gestemmten Armen an.
„Nein, kann ich nicht, aber eine andere Möglichkeit, Ninnel unterzubringen,
gibt es jetzt auch nicht mehr – oder willst du etwa doch, dass er uns
auf dieser interessanten Reise begleitet?“
Karlmax hoffte, dass seine Frau sich noch an den einen Auftritt von ihm erinnerte,
wo Ninnel die „Hoppe Hoppe Reiter mit Sporenstiefeln“-Nummer auf
der Bühne vor dem Publikum mit seinem Vater abgezogen hatte, ohne dass
sich Karlmax dagegen hätte wehren können..

Glücklicherweise war Rita jener Auftritt ebenso peinlich gewesen und noch
immer sehr gut in Erinnerung. Deswegen war nun einer der wenigen Momente gekommen,
in dem sie sich ihrem Mann unterordnete, wenn auch nicht ohne die Arme zu verschränken
und säuerlich vor sich hin zu grummeln.
Nach einigen Minuten Fußmarsch endete der Weg an jenem dunklen, finstren
Höhleneingang mitten im Wald, an den Karlmax nur zu gute Erinnerungen hatte.
Momentan fragte er sich, wie er es damals geschafft hatte, jene Höhle lebendig
zu verlassen und ob ihm das noch ein zweites Mal gelingen würde, von seiner
Familie ganz abgesehen…
„Eine HÖHLE? Eine HÖHLE! Unser Sohn kann nicht mal mehr in einem
richtigen Haus mit einem ordentlichen Bett schlafen? Bist du jetzt vollkommen
übergeschnappt, Karlmax?“, fuhr Rita auf.

„Schatz, er wird es überleben! Nicht wahr, Ninnel?“, entgegnete
Karlmax hilflos.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
„Da siehst du’s! Er will nicht da rein!“, sagte Rita.
„Er wollte auch nie zu den Dusseleys…“

„Aber die kannte ich wenigstens.“
„Nun, ICH kenne Kalessan da drinnen – oh bitte, Rita, kannst du
mir nicht ein einziges Mal vertrauen?“
Mittlerweile war Karlmax der Verzweiflung nahe und sich nicht mehr sicher, ob
er die Konfrontation mit Karlmax oder die mit seiner Frau mehr scheute.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
Rita schaute ihren Gatten an, zuckte kurz nervös mit den Augenlidern und
sagte dann:

„Halt den Mund und tu, was dein Vater dir sagt!“
Karlmax atmete erleichtert auf – er hatte sie!
„In Ordnung, ich gehe dann jetzt erst mal alleine da rein und rede mit
ihm – ihr wartet solange hier draußen!“
Er traf auf keinen Widerstand mehr und machte sich daran, die Höhle zu
betreten, als er sich wieder fragte, ob die Konfrontation mit Rita vielleicht
doch dem vorzuziehen war, was ihm nun bevorstand…

Die
paar Meter vom Höhleneingang zur Haupthalle überlegte Karlmax verzweifelt,
wie er die Konversation mit seinem „Freund“ denn beginnen sollte,
ohne dessen Launen gleich zum Opfer zu fallen.
„Mensch, Kalessan, lange nicht gesehen! Wie geht’s, wie steht’s?“
Nein…
„Hi Kal, alte Schuppe!“

Nein…
„Hallo Kalessan, ich wollte nur mal wieder bei dir vorbeischauen!“
Nein…
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
Nein… obwohl das Kalessan zunächst vielleicht verwirren und Karlmax mehr
Zeit geben könnte…

Als er die Höhle betrat und Kalessan erblickte, fiel ihm dann eine passende
Begrüßung ein:
„Bevor du einen Laut machst – versuche bitte so zu sprechen, dass
meine Trommelfelle nicht gleich platzen, ja?“
Der ihm gegenüber liegende alte, rote Drache schnaubte verächtlich.
Faul zusammengerollt lag er auf dem Boden seiner Höhle, welcher von alten
Rüstungsteilen, Knochen und kleinen, gelben Pfützen bedeckt war.

Seine Gestalt würden einige als „imposant“, andere als „majestätisch“,
die meisten jedoch nur als „beängstigend groß“ beschreiben,
wobei die Betonung sehr stark auf „beängstigend“ liegen würde.
Doch auch dies taten nur wenige – alle anderen beschrieben ihn als „AAAAAHHHHHH!“
und liefen vor ihm weg, griffen ihn an oder fielen tot um, was allerdings keinen
Unterschied machte, da eh alles auf dasselbe Ergebnis hinauskam…

Aufgrund der vielen verdächtig gelben Pfützen könnte man nun
vermuten, dass der Höhle ein gar grässlicher Gestank anhaftete. Doch
wenn man es schaffte, seinen Blick mal von dem riesigen, roten Besitzer jener
Hallen abzuwenden, fielen einem recht bald ein paar große Tannenbäume
auf, die von der Decke hingen. Beanspruchte man nun noch sein Riechorgan, so
konnte man feststellen, dass der Höhle ein stechend-harziger Nadelwaldgeruch
anhaftete, der dem Gestank von Verwesung und Exkrementen in der Nase fast keinen
Platz mehr ließ.
„Wer bist du, dass du mir Befehle erteilst, Wicht?“, meldete sich
der Drache nun mit einer Stimme zu Wort, die zwar nicht seiner vollen Lautstärke
entsprach, in den Ohren eines nicht-tauben Menschen aber immer noch ziemlich
schmerzte, „Und vor allem: Was duzt du mich?“

Karlmax rutschte das Herz fast in die Hose – nicht nur von der Lautstärke.
Wenn der Drache ihn nicht erkennen sollte, sah es, gelinde gesagt, schlecht
um ihn aus.
„Erkennt ihr mich denn nicht wieder, Kalessan? Ich bin es, Karlmax!“
Er grinste ihn nervös an. Der Drache starrte verächtlich zurück,
schmatzte dann kurz und sagte:
„Ach so, du… Du warst doch gerade erst hier!“

„Das war vor neun Jahren!“
„Sag‘ ich doch…“
„Neun Jahre sind für einen Menschen eine halbe Ewigkeit!“
Kalessan zog das draconische Ambivalent einer Augenbraue hoch und erwiderte:
„Na dann hast du ja noch ein paar Ewigkeiten zu leben, freu dich. Und
jetzt: Verpiss dich!“

Karlmax schluckte und riss sich zusammen. Wozu war er denn hergekommen, wenn
er genau wusste, was ihn erwarten würde?
Moment mal, er hatte keine Ahnung gehabt, was ihn erwarten würde…
Also half nur eines: Das Vorgehen nach dem „Augen zu und durch!“-Prinzip,
mit der Hoffnung, es möge schnell vorbei gehen – was auch immer dieses
Es sein möge…

„Tut mir leid, aber ich bin nicht zum Spaß hergekommen, oder weil
ich euch mal wieder sehen wollte. Ehrlich gesagt möchte ich euch um einen
kleinen Gefallen bitten!“
Kalessans Miene gefror.
Leute, die ihn umbringen wollten – okay!
Leute, die sein Gold stehlen wollten – okay!

Leute, die ihm Opfer darbrachten – okay!
Leute, die ihm die neuste Ausgabe von „Mord ist Sport“ lieferten
– okay, das alles konnte man essen!
Leute, die ihn um einen kleinen Gefallen baten – und dann auch noch Leute,
die er kannte und denen er etwas schuldig war… wie peinlich!

„So so, du bittest mich also um einen ‚kleinen Gefallen‘.
Und was bitteschön verleitet dich zu der Annahme, dass ich dir diesen ‚kleinen
Gefallen‘ auch erfülle und dich nicht einfach umbringe?“, fragte
er, indem er sich mit seinem massiven Kopf dem kleinen Menschen bedrohlich näherte.
Karlmax nahm allen seinen Mut zusammen, holte tief Luft und sagte mit der festesten
Stimme, die er aufbringen konnte:
„Ihr hattet mir vor neun Jahren gesagt, dass ihr mir noch etwas schuldig
wäret. Ich bin nun gekommen, um diese Schuld bei euch einzulösen!“

Soweit sich Karlmax erinnern konnte, hatte Kalessan ein recht ausgeprägtes
Ehrgefühl, und die Hilfestellung, die er ihm beim Retten seiner Magie und
seiner Existenzform als Drache damals geleistet hatte, war nicht gerade gering
gewesen.
Der Drache schien sich zu erinnern:
„Ach ja, dieser kleine, dunkle Fleck in meinem Leben… ich hatte gehofft,
dass du dieses Versprechen vergessen würdest oder zumindest vorher stirbst,
bevor du es einlösen konntest.“, er seufzte tief, „Also schön,
was willst du? Soll ich dir in irgendeinem dein Heimatland bedrohenden Krieg
helfen? Macht euch ein Kollege von mir zu schaffen? Soll ich deinen Leibwächter
spielen?“

„Ehrlich gesagt ist meine Bitte nicht ganz so… umständlich…“
„Oh, du bist knapp bei Kasse… na gut, wie viel brauchst du? Meine Zinssätze
sind für dich natürlich extra günstig…“
„Es geht auch nicht um Geld, mehr um… Betreuung.“, erwiderte Karlmax.
„Oh, ich darf dir irgendein wichtiges Artefakt bewachen? Na, zum Bewachen
sind wir Drachen ja noch gerade gut genug, nicht wahr?“, sprach Kalessan
sarkastisch weiter.

„Nein, es geht auch nicht um ein Artefakt, sondern… um meinen Sohn.“
„Ach so, dein Sohn… BITTE, WAS?“
„Esistnichtlange, wirklich! Nur ein paar Wochen, bis ich und meine Frau
wieder zurück sind, mehr verlange ich nicht.“
„VERLANGST du? Du VERLANGST von mir, dass ich den Kinderhüter für
so einen kleines, widerliches Menschenbalg spiele!?“, zischte Kalessan
hitzig, den Hals gebogen wie eine Schlange, die kurz vor dem Zustoßen
ist.

Karlmax war auf dem besten Weg, den Pfützen auf dem Boden eine weitere
hinzuzufügen.
„Dir ist wohl nicht bewusst, dass ihr Menschen auf meinem Speiseplan ganz
oben steht? Da kommt mir so ein kleiner Wurm, den ich nicht antasten darf, hier
drin nicht gerade gelegen!“, fuhr der aufgebrachte Drache fort.
„Nun, das wäre ein weiteres Problem… Solange der Kleine hier ist,
wäre ich euch auch sehr verbunden, wenn ihr diese… Eigenarten ein wenig
zurückschrauben und woanders ausleben könntet. Nur ein paar Wochen?“,
fügte Karlmax kleinlaut hinzu.

„Das ist ganz toll, wirklich. Kannst du dir wirklich nicht etwas anderes
einfallen lassen, um diese kleine Rechnung zwischen uns zu begleichen? Ich könnte
dir doch Geld geben, meinetwegen auch ohne Zinsen, damit kannst du dir einen,
quatsch, ein Dutzend Babysitter leisten!“
„Das geht nicht, dazu ist es zu spät! Ihr seid meine letzte Hoffnung,
den Jungen irgendwie unterzubringen, denn mitnehmen kann ich ihn auf keinen
Fall! Wie gesagt, es wäre nur für kurze Zeit… und wisst ihr was,
sobald ich ihn dann wieder abgeholt habe, werde ich euch nie wieder belästigen,
das verspreche ich euch! Eure Schuld bei mir ist damit beglichen, und ich werde
euch nie wieder behelligen. Dieser dunkle Fleck in eurem Leben wird praktisch
nie existiert haben!“
Karlmax kam der Verzweiflung nahe. Der Drache schien ihm gegenüber zwar
nicht mehr wirklich aggressiv eingestellt zu sein, dennoch war es seine letzte
Chance, den Jungen loszuwerden.
Kalessan dachte nach – und kam zu einem Entschluss:

„Nur ein paar Wochen?“
„Nur ein paar Wochen!“
„Ich sehe dich danach nie mehr wieder?“
„Nie wieder!“
Der große Drache seufzte erneut:
„Na schön, ich mache es… ein wenig Abwechslung kann hier drinnen
wohl nicht schaden… Also, was muss ich tun?“

Karlmax atmete auf – das war geschafft!
„Nun, ihr müsst vor allem für Essen, Trinken, für eine
Schlafstatt und eventuell auch für Kleidung sorgen.“
„Kleider, das sind diese Dinger, die immer zwischen den Zähnen hängen
bleiben!?“, erkundigte sich Kalessan grinsend.

Karlmax versuchte, ihn zu ignorieren:
„Ihr müsst ihn einfach nur ein bisschen beschäftigen. Er kann
recht anstrengend sein, aber ich bin mir sicher, dass ihr die nötige…
Autorität habt, um damit fertig zu werden.“
„Darauf kannst du zählen, das stimmt. Nun gut, genug geredet, jetzt
kannst du mir diesen kleinen Wurm auch endlich vorstellen und abzischen, damit
ich meinen Spaß mit ihm haben kann!“
Karlmax fand das gar nicht komisch.

„Ich finde das überhaupt nicht komisch, Kalessan. Bitte vermasselt
es nicht! Betrachtet es als… andersartige Herausforderung, wenn ihr wollt,
aber ich möchte meinen Jungen in ein paar Wochen in einem Stück zurück
haben, und zwar genau so, wie ich ihn euch übergebe. Denkt ihr wirklich,
dass ihr dieser Aufgabe gewachsen seid?“
„Die Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin, muss erst noch gefunden werden,
Kleiner. Stellst du uns jetzt endlich mal einander vor?“, erwiderte der
Drache ungeduldig.
„Nun, da ist noch ein kleines Problem: Meine Frau weiß noch nicht,
dass ihr ein Drache seid, und… mir wäre es auch lieber, wenn sie es jetzt
noch nicht erfährt… Wenn ihr also mit herauskommen könntet und euch
vorher…“

Er ruderte mit den Armen, unfähig, sein Anliegen auszusprechen. Kalessan
verstand ihn auch so:
„Du weißt, was du da verlangst?“
Karlmax nickte nervös.
„Du weißt, dass ich mich seit dieser letzten Geschichte nicht mehr
verwandelt habe?“
„Ich… kann es mir denken… aber wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit,
dass irgendein wahnsinniger Magier jetzt gleich vorbeikommt und euch erneut
eure Magie erneut stiehlt? Ha ha?“

Der Drache seufzte:
„Nein, du hast wahrscheinlich Recht… warum mache ich das alles bloß?“
Karlmax hatte ziemliches Glück, dass Kalessan diesen Gedanken nicht weiter
verfolgte. Ansonsten wäre der Drache wahrscheinlich darauf gekommen, dass
er das alles wirklich gar nicht machen müsse, hätte ihn und seine
Familie auf der Stelle umgebracht und sich den ganzen Ärger erspart. Der
Drache wusste, dass er mit seinen Gedankengängen dort herauskommen würde
und verfolgte sie auch Karlmax zuliebe absichtlich nicht weiter, sondern verwandelte
sich einmal mehr in den über zwei Meter großen Hünen in roter
Robe, der sein menschliches Erscheinungsbild war.

„Zufrieden?“, fragte Kalessan lakonisch.
„Ihr habt keine Ahnung, wie dankbar ich euch für das bin, was ihr
hier tut!“
„Ach komm, spar dir den Mist!“
Karlmax atmete erneut erleichtert auf. Der Rest sollte ja jetzt ein Kinderspiel
sein.

Draußen
warteten eine entnervte Ehefrau mit in die Seiten gestemmten Armen sowie ein
lautstark quengelnder Junge auf ihn – die Reihe an stressigen bis lebensgefährlichen
Situationen schien also zunächst doch noch kein Ende zu haben.

„Du hast dir ja ganz schön viel Zeit gelassen, mein Lieber. Ich bin
hier mit dem Jungen fast wahnsinnig geworden.“ – Warum „fast“?,
dachte sich Karlmax angesichts der Schärfe ihrer Stimme. – „Und
was war das für ein lautes Gebrüll, das da aus der Höhle kam?
Ich wäre dir beinahe nachgegangen, wenn da drinnen nicht alles so schmutzig
wäre und so schrecklich stinken würde!“

Karlmax drehte sich erschrocken um, doch Kalessan schien nicht beleidigt, sondern
eher belustigt, wie er es immer war, wenn Menschen mit ihm umsprangen wie mit
einem… Menschen.
„Ähm, Schatz – das ist Kalessan, er wird die nächsten
Wochen auf unseren Sohn aufpassen. Kalessan, meine Frau Rita, mein Sohn Ninnel.“
Verblüfft beobachtete er, wie Kalessan seine Hand ausstreckte, um sie Rita
zu geben. Beide Parteien schienen von dem überaus heftigen Händedruck
ihres Gegenübers ziemlich überrascht und konnten sich anscheinend
nur mit Mühe zurückhalten, keinen plötzlichen Schmerzenslaut
auszustoßen.

„Bin erfreut.“, presste Kalessan hervor und begann, Karlmax‘
Frau abfällig-interessiert (oder auch interessiert-abfällig) von oben
bis unten zu mustern.
„Ebenfalls. Ihr seid also dieser ominöse Kalessan. Wisst ihr denn
überhaupt, wie man mit Kindern umgeht?“, fragte Rita in bemüht
freundlichem Tonfall.
„Hätte mich euer Mann sonst vorgeschlagen?“, entgegnete der
Drache.

„Also habt ihr schon einmal mit Kindern gearbeitet? Oder hattet ihr selbst
einmal eine Familie?“
„Äh, Rita, wir müssen jetzt schnell gehen, der Kutscher wartet
nicht mehr lange auf uns!“, rief Karlmax hastig dazwischen, der das Thema
von Kalessans Familie nun als allerletztes angesprochen haben wollte.
„Aber Schatz, ich möchte schließlich ein wenig über den
Mann erfahren, dem ich meinen Sohn über die nächsten Wochen anvertraue.“
„Ja genau! Ich könnte euch alle ja noch schnell zum Essen einladen
und wir besprechen die ganze Angelegenheit!“, bestätigte Kalessan
mit einem sadistischen Grinsen in Karlmax‘ Richtung.

„NEIN!“, rief Karlmax, lauter, als er eigentlich gewollt hatte,
was eine dieser kurzen, peinlichen Stillen zur Folge hatte.
Mit gesenkter Stimme fuhr er fort:
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, wir müssen schnell zurück,
Schatz. Bitte vertrau mir in dieser Angelegenheit einfach – ich vertraue
ihm ja auch.“, sagte er mit einem ebenso vielsagenden Blick auf den grinsenden
Drachen.
„Nun gut Ninnel, wir lassen dich jetzt ein paar Wochen mit Onkel Kalessan
hier alleine. Er wird in dieser Zeit deine Familie für dich sein, also
benimm dich!“, und mit leisem Tonfall fügte er dann hinzu:

„Es ist zu deinem eigenen Besten!“
Rita gab zu Karlmax‘ Erleichterung klein bei und verabschiedete sich ebenfalls
von ihrem Sohn mit den üblichen Ratschlägen immer brav zu sein, dem
netten Herrn doch keinen Ärger zu machen und sich vor dem Essen immer die
Hände zu waschen.
An Kalessan gerichtet sagte sie dann noch:
„Dass ihr mir ja gut auf meinen Sohn aufpasst, und dass ihm auch ja nichts
passiert, versteht ihr? Ich kann zu einer wilden Bestie werden, wenn meinem
kleinen Ninnel etwas zustößt!“

Kalessan beugte sich leicht vor und erwiderte:
„Ich doch auch, meine Liebe…“
Karlmax entschied sich, dass es wirklich an der Zeit war, nun zu gehen, nahm
seine Frau mit sanfter Gewalt beiseite, verabschiedete sich noch mal von seinem
Sohn und richtete sich noch ein letztes Mal an den Drachen:
„Ihr wisst, was ihr zu tun habt?“
Kalessan nickte.
„Dann auf bald! Und… vielen Dank nochmals!“

Der Drache winkte lächelnd ab, was Karlmax jedoch nicht unbedingt beruhigte.
Dennoch verließ er mit seiner Frau nahezu fluchtartig das Geschehen.
Auf dem Weg zur Kutsche fiel ihm ein, was er mit Rita nun während der Abwesenheit
seines Sohnes ebenfalls etwas… ausgiebiger betreiben konnte und lächelte
glücklich – schon bei Sally war Rita wirklich nicht schlecht gewesen…

Für
Kalessan ging das ganze ein klein bisschen zu schnell. Auf einmal stand er alleine
vor seiner Höhle, zusammen mit einem kleinen, ihm völlig unbekannten
Menschenbengel, der ihn mit großen Augen nichtssagend anstarrte. Schlimmer
noch, er musste sich jetzt persönlich um dieses Ding kümmern… nicht
morgen, nicht später, nicht nachher, sondern jetzt, gleich, sofort! Na
toll…

„Komm mit rein!“, sagte er. Auf dem Weg in seine Heimstätte
würde ihm schon einfallen, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte.
Er lief ein paar Meter, blieb dann stehen und drehte sich noch mal um –
der Junge hatte sich nicht vom Fleck bewegt und starrte ihn weiterhin durchdringend
an. Das konnte ja sogar ihm fast unangenehm werden…
„Was ist, bist du taubstumm oder so?“
Der Junge – Ninnel hieß er, richtig – schüttelte den
Kopf.

„Bist du vielleicht nur stumm?“
Er schüttelte den Kopf erneut.
„Und was ist dann dein Problem?“
„Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden mitgehen.“
„Bitte, mir soll es nur Recht sein!“, mit diesen Worten drehte Kalessan
sich um und betrat seine Höhle. In seinem Hauptwohnraum angekommen, lehnte
er sich lässig an die Wand und wartete auf den Jungen, der ihm ja nun jeden
Moment hinterherkommen müsste.

Währenddessen blieb Ninnel draußen stehen und beobachtete zunächst
die Umgebung der Höhle, ohne sich dabei auch nur einen Millimeter zu rühren.
Nachdem er mit seiner Beobachtung fertig war, entschied er sich dazu, abzuwarten,
was denn als nächstes passieren würde. Er wartete ungefähr eine
halbe Stunde, dann stürmte ein wütender, roter Hüne aus der Höhle,
packte ihn am Kragen und schleifte ihn in sein Heim. Ninnel grinste stumm in
sich hinein.
Als Kalessan ihn, in seiner Höhle angekommen, an der Gurgel hochhob, grinste
er nur noch breiter.

„Jetzt hör mir mal zu, du Wurm! Solange du bei mir bist, wirst du
tun, was ich dir sage, nicht das, was deine werte Mutter dir irgendwann mal
gesagt hat – denn sie ist nicht hier, um dich zu beschützen, und
anscheinend soll ich diese Aufgabe übernehmen. Aber ich habe nicht die
geringste Lust, auf so ein kleines Menschlein aufzupassen, das mir keinen Respekt
zollt!“
Dass dem Jungen die Luftzufuhr abgeschnitten war, tat seinem Grinsen anscheinend
keinen Abbruch. Kalessan ließ ihn hinunter.
„Wenn du das noch mal machst, sage ich es meiner Mutter und die macht
dich dann zur Schnecke!“, sagte Ninnel mit einer für das eben Erlebte
nahezu unnatürlichen Ruhe.

„Und ich mache sie zu meinem Frühstück, sollte sie es versuchen.
Nur, weil ich deinem Vater was schuldig bin, heißt das nicht, dass ich
mir von ihm oder seinen Verwandten alles gefallen lassen muss! Hör also
gefälligst auf, mich zu duzen und zoll mir den Respekt, der mir gebührt!“
Ninnel fing wieder an, fies zu grinsen und brach daraufhin in folgenden Singsang
aus:
„Dududu duDu duDu duDudeldiDU, DU DU DU DU DU, dudeldudelDUdudu.“
Kalessan konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass ihn je jemand offener und
vor allem sorgloser als jetzt verspottet hatte, was natürlich hauptsächlich
an seiner momentanen, weit weniger eindrucksvollen Gestalt lag.

„…Dududu, DuduDUdududu…“
Es reichte – jetzt kam die Zeit, um Eindruck zu schinden. Kalessan leitete
die Verwandlung ein und begann, zu wachsen und sich zu verändern.
„Dududu, dududu… dududu… «
Er wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Dudu… dudu… du…“

…und wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Du… du…“
…und wuchs, bis schließlich nicht mehr Onkel Kalessan, der Zwei-Meter-Mann,
sondern Kalessan der Fünfzig-Meter-Drache, die Höhle ausfüllte.
„…du… du?“
Kalessan beugte seinen massiven Schädel hinunter und brachte ihn kurz vor
dem kleinen Menschenjungen zum Verharren.

„Na, was sagst du jetzt, Winzling?“, brachte er leise, aber bedrohlich
hervor.
Ninnel zögerte kurz und sah ihn weiterhin ausdruckslos an. Dann sagte er:
„Du bist hässlich und du stinkst!“

Ausatmen!
Drachen können zu einigen der gefährlichsten Wesen der gesamten Welt
heranwachsen. Kalessan ist alt und sein persönlicher Gefährlichkeitsgrad
darf aufgrund seines Temperaments noch potenziert werden. Damit überholt
er sogar die drei schrecklichen Furien Alexzstrzuszszuszia, Chmlech’krach!clochchmchmrn
und Karl-Heinz, die vor allem wegen ihrer schrecklichen Namen und ihrer Angewohnheit,
sich nur mit vollem Namen anreden zu lassen, gefürchtet werden. Bei letzterer
streitet man übrigens noch um ihr Geschlecht – natürlich nur
in ihrer Abwesenheit.

Und ausatmen!
Ein Wesen wie Kalessan zu reizen ist also sehr sehr dumm.
Kalessan war sich dessen vollkommen bewusst, weswegen er, teilweise um sich
selbst zu beruhigen, diese Kreatur vor ihm einfach nur als „bemitleidenswert
dumm“ abtat und sich einredete, dass es doch eine viel größere
Bösartigkeit wäre, sie in diesem Zustand vollkommenster Dummheit weiterhin
existieren zu lassen, anstatt sie von ihrem Leiden zu erlösen.
Und wieder ausatmen!

„Na, haben wir uns langsam an diesen ‚Gestank‘ gewöhnt?“,
sagte er, bevor das groteske Pendel wieder zu ihm zurück schwang und er
es erneut mit einem kräftigen Hauch wieder in die andere Richtung pustete.
Ninnel hing kopfüber an einer langen Kette von einer der geruchsintensiven
Tannen in Kalessans Höhle und pendelte, vom Atem des Drachen angetrieben,
nun schon seit einiger Zeit immer hin und her.
„Ich erzähle meiner Mama davon!“, sagte er.

„Ach, und was will deine Mama gegen einen ausgewachsenen Drachen wie mich
ausrichten? Mir im Hals stecken bleiben?“
Überraschenderweise fand Ninnel darauf keine Antwort.
Mit einer Klaue brachte Kalessan das Ninnel-Pendel zum Anhalten und funkelte
den Jungen mit seinen gelb glühenden Augen an.
„Wir werden diese kleine Prozedur ab jetzt immer dann durchführen,
wenn du dich nicht benimmst, klar?“
Ninnel nickte.

„Und wenn du deiner Mutter oder deinem Vater davon erzählst, dann
werde ich sie hier auch aufhängen – das willst du doch nicht, oder?“
Ninnel schüttelte den Kopf.
„Gut, also wenn ich dich jetzt runterlasse, wirst du dich dann benehmen
und deine Beleidigungen zurücknehmen?“, fragte der Drache ihn mit
schiefgelegtem Kopf.
„Ja.“

Kalessan berührte die Kette kurz, welche mit einem leisen Klicken aufsprang.
Ninnel setzte er auf dem Boden vor sich ab und starrte ihn forschend an.
„Na… ich höre?“
Der durch Kalessans Prozedur sichtlich grün angelaufene Junge schaute ihn
trotzig an, sagte dann aber mit gesenktem Blick:
„Tutmirleid…“
Kalessan knurrte kurz, gab sich aber mit der Antwort zufrieden… mehr durfte
man von diesem Balg wohl nicht erwarten.

Dieser sich von seiner kleinen Folter offenbar sehr schnell erholende Balg sprach
ihn jedoch erneut an:
„Ich hab‘ Hunger!“
Faszinierend, wie viel Suizidpotential diesem Jungen anhaftete – jener
Satz erinnerte Kalessan nämlich just an seine eigenen, aufgrund dieses
in Griffweite liegenden, kleinen Snacks selber wieder erwachten Hungergefühle.
Zum Glück mochte der Drache Herausforderungen – als gefährlichstes
Wesen der Welt hat man nicht mehr viele. So galt es, die eigene Selbstbeherrschung
stärker sein zu lassen als Ninnels Eigenschaft, sich in ungeahnte Gefahrensituationen
zu bringen.

Nur fiel Kalessan erst jetzt auf, was für ein Problem die Nahrungsbeschaffung
für das Kind sein würde. Die örtliche Fauna packt nämlich
schneller die Koffer als man „Blaubeerpfannkuchen“ sagen kann, wenn
sich ein Wesen wie Kalessan in der Nähe einnistet und zum Beeren pflücken
und Brot backen sowie zum Einfach-in-die-nächste-Stadt-gehen-und-etwas-kaufen
war der Drache zu stolz.
Somit blieb nur das einzige Nahrungsmittel übrig, das dumm genug war, angesichts
der Präsenz des Drachen nicht zu fliehen.

Das einzige Nahrungsmittel, von dem Kalessan ganz genau wusste, wo er es finden
und einfach bekommen könnte.
Das einzige Nahrungsmittel, das Kalessan auch auf sehr schmackhafte Art und
Weise zubereiten konnte.
Und das war nun mal…

„Was
ist denn das?“, fragte Ninnel, als er das von Kalessan einige Zeit später
zubereitete Gericht sah. Es handelte sich um einen großen, sehr dunkelbraunen
bzw. bereits schwarz verkohlten, unförmigen Fleischklumpen, dessen Zubereitung
darin bestand, dass es auf dem Blatt einer großen, grünen Pflanze
lag. Man beachte, wie das Attribut „schmackhaft“ von Spezies zu
Spezies vollkommen unterschiedlich interpretiert wird.

„Ist doch egal, wovon das stammt. Das ist Fleisch, das ist nahrhaft, das
ist gesund – also iss!“, erwiderte der sich momentan in seiner menschlichen
Gestalt befindliche Kalessan.
„Das da sieht aber aus wie eine Hand!“, zeigte Ninnel auf ein aus
der Masse herausragendes Fleischstück.
„Ähm… da spielt dir deine Phantasie wohl einen Streich… du hast
doch sicherlich Hunger? Also iss endlich!“
Der leichte Anflug von Panik in Kalessans Stimme war sicherlich auch nur ein
Streich von Ninnels Phantasie…

„Aber an der Hand steckt noch ein Ring dran!“
Kalessan erlebte das faszinierende, menschliche Gefühl eines spontanen
Schweißausbruchs, als er näher hinsah und das glänzende Stück
Metall entdeckte, das auf einem der kleinen Auswüchse des Fleischklumpens
steckte.
Blitzschnell nahm er den Ring und brach dabei das Stückchen Fleisch, das
einem menschlichen Finger wirklich gar nicht mal so unähnlich war, ab.

Mit den Worten „Das ist gar kein Ring, sondern ein… ähm… ein
Stück Fett!“ steckte er ihn sich in den Mund und kaute darauf herum
– für einen Drachen in Menschengestalt ist das gar nicht mal so schwer,
da seine natürliche Kraft sich auf andere Erscheinungsformen seiner Wahl
überträgt. Bei einem Amok laufenden Drachen in Gestalt eines süßen
Kätzchens kann das schon mal ganz witzige bzw. blutige Ergebnisse haben,
was jedoch eine Episode seines Lebens ist, die Kalessan nicht gerne erwähnt
haben will. Für einen Drachen ist es jedenfalls ungefähr so anstrengend
einen soliden Metallgegenstand zu kauen, wie für einen Menschen eine Walnuss
mit Schale zu essen… man verzichtet also lieber darauf.

„Hmmm… lecker!“, würgte der Drache hervor und schluckte den
Ring hinunter. Leider hatte er ihn noch nicht auf eine für die Speiseröhre
seiner menschlichen Form akkurate Größe zurechtgekaut, weswegen ihm
das Metallstück auch wortwörtlich im Halse stecken blieb. Für
ein Wesen, das einen ganzen Ritter inklusive Rüstung, Pferd, Lanze und
allem Zubehör (wenn vorhanden also inklusive Knappen) schon mal im Stück
verschluckt eine entsprechend peinliche Situation. So taumelte Kalessan also
hustend und würgend durch die Pfützen seiner Höhle, schaffte
es dann irgendwie, seinen Hals zu befreien und das stark verformte Metallstück
wieder auszuspeien. Das laute *pling*, das ertönte, als der ehemalige Ring
auf dem Boden aufschlug, verhallte peinlich im Raum. Kalessan sah Ninnel erschöpft
von der Seite an.

Der Kommentar des Jungen zu der Situation war:
„Ich esse kein Fleisch!“
Über diesen Satz vergaß Kalessan sogar das Erschöpftsein und
starrte den Jungen ungläubig an.
„Du willst mir nicht wirklich erzählen, dass du einer von diesen…
wie hießen sie noch mal… Vegetierenden bist!?“

Ninnel nickte.
„Das soll also heißen, dass ich diesen schönen Braten hier
vollkommen umsonst getö… gefangen und zubereitet habe und jetzt noch
mal losziehen darf, um dir… Beeren oder… Brot oder so ein Zeug zu besorgen!?“,
fragte der Drache mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.
„Ich mag auch Kartoffeln!“, sagte Ninnel fröhlich grinsend.

Kalessan erkannte, dass er um einen Einkauf in der nächstgelegenen Stadt
mit zugehöriger Beratung wohl nicht herumkommen würde – doch
man kannte ihn in dieser Gegend und wusste genau, was für eine Kreatur
er war, was wohl zu einer weiteren für ihn entsprechend peinlichen Situation
führen würde.
Nun war der Moment gekommen, an dem sich Kalessan ernsthaft fragte, warum er
sich überhaupt die Mühe machte. Warum er diesen kleinen Winzling nicht
einfach umbrachte und auffraß, wie er es mit so vielen vorher schon getan
hatte. Und warum er seine Eltern nicht auch gleich beseitigte. Moralische Probleme
sollte es ihm aufgrund seiner ethischen Einstellung gegenüber der Menschheit
doch eigentlich nicht bereiten!?

War es die offene Schuld gegenüber Karlmax, der ihm schließlich mehrfach
das Leben gerettet hatte?
War es die Herausforderung, einmal Selbstbeherrschung und auch Verzichten unter
Extrembedingungen zu üben?
Oder hatte ihm die Jahrtausende währende Einsamkeit und der Hass ganzer
Völker gegen seine Person doch mehr zugesetzt, als er eigentlich wahrhaben
wollte?
Eine genaue Antwort wusste er nicht – am Ende stand nur die Entscheidung:

„Ach, verdammt, na gut!“

Eine
noch so unangenehme Aufgabe kann erträglich werden, wenn man sie richtig
angeht. Um also vegetarische Nahrungsmittel herbeizuschaffen, von denen er keine
Ahnung hatte, stattete er der größten Stadt innerhalb seines Reviers
einen Besuch ab und forderte bei einer schnell organisierten öffentlichen
Kundgebung ein Opfer der Bevölkerung in Form von Lebensmitteln, welches
ihm fortan wöchentlich in seine Höhle gebracht werden solle, zahlbar
mit Abschließen jener Kundgebung.
Kalessan hatte die menschliche Bevölkerung in seiner Umgebung schon oft
in Abständen von ein paar menschlichen Generationen zu kleinen und großen
Tributen aufgefordert. Zu weit trieb er es dabei jedoch nie, da es doch sehr
unpraktisch sein kann, wenn einem das letzte verbleibende Nahrungsmittel einfach
in Scharen wegläuft und man mit einer insgesamt eher ärmlichen bis
nicht vorhandenen Tierwelt in der nächsten Umgebung zurückgelassen
wird.

Menschen lassen sich jedenfalls nicht lange bitten, wenn ein roter Drache auf
ihrem Marktplatz landet und ihnen Forderungen unterbreitet – seien sie
noch so seltsam und enthielten Dinge wie „vegetierende Lebensmittel“…
Kurze Zeit später flog Kalessan mit mehreren großen Behältern
voller Getränke und dieser Lebensmittel, die Menschen so gerne aßen,
ein wenig stolz auf sich, weil er diese prekäre Situation so clever gelöst
hatte, zurück zu seiner Höhle im Wald.

Ein wenig verwundert darüber, dass Ninnel sich immer noch darin aufhielt
(heimlich hatte er ja doch gehofft, dass der kleine Quälgeist von selbst
in den Wald laufen und von Kalessans Wolfshorde oder, besser noch, seinem alten
Gehilfen, gefressen werden würde), präsentierte er dem Jungen die
Lebensmittel, die dieser zu Kalessans noch größerer Verwunderung
annahm und sogar aß, was aus der Sicht des Drachen durchaus als eine Verbesserung
der Lage angesehen werden durfte.
Jedoch waren anscheinend noch längst nicht alle Bedürfnisse des kleinen
Menschen als abgehakt zu betrachten. Über das eine wird weder in der Literatur
noch in den Medien der unseren Welt gerne gesprochen, die gesamte Problematik
dieses Bedürfnisses sei jedoch mit Ninnels Satz „Ich muss mal Pipi!“
und dem Antwortsatz von Kalessan „Du musst mal was?“ zumindest
einmal angeschnitten. Zusammenfassend sei berichtet, dass jene Situation auch
die Sätze „Ich muss mal groß!“ und „Kannst du mir
mal abwischen?“ beinhaltete, aber das gehört im Detail nun wirklich
nicht hierher. Man sollte meinen, dass dies der ohnehin schon angeschlagenen
Psyche Kalessans den Rest geben müsse – doch ganz im Gegenteil, der
Drache fand es eher interessant, dieses Grundbedürfnis des menschlichen
Körpers näher zu beobachten, was ausnahmsweise mal Ninnel unangenehm
war.

Das Interesse für menschlichen Stoffwechsel lässt sich am besten erklären,
wenn man im Gegensatz dazu den eines Drachen mal näher betrachtet. Drachen
können einen ungeheuer hohen Anteil der Nahrung, die sie aufnehmen, auch
wirklich in Energie umsetzen – der geringe Prozentsatz an biologischem
Abfall, der beim Verdauungsprozess übrig bleibt, wird über periphere
Organe der Haut ausgeschieden, was jetzt natürlich höchstens für
einen Biologen von Interesse sein und von diesem wahrscheinlich auch noch aufs
schärfste wissenschaftlich zerpflückt werden dürfte. Dieser außergewöhnliche
Metabolismus des Drachen soll jedenfalls so stark sein, dass er es ihnen ermöglicht,
sogar Edelsteine zu schlucken und zu verdauen. Jeder Drache, der das einmal
ausprobierte, merkte jedoch, dass diese Behauptung nur zu 50 % wahr ist. Er
konnte den Stein schlucken und wurde nicht mal mehr zwingend krank, wiederholte
diese Tat jedoch nicht wieder – probieren Sie doch mal, einen 40karätigen
Edelstein auszuschwitzen!

Um auf menschliche Bedürfnisse zurück zu kommen – eines der
für Kalessan vielleicht angenehmsten stand noch offen. Und auf dieses war
er indirekt sogar vorbereitet…
Es äußerte sich in einem ausgedehnten Gähnen von Ninnel, einhergehend
mit der Frage:
„Wo soll ich denn schlafen, Onkel Kalessan?“

„Nenn mich nicht Onkel!“, zischte der Drache zurück, bewegte
sich aber gleichzeitig in die hinteren Bereiche seiner Höhle – möglichst
weit weg von diesem kleinen Etwas, das die Frechheit besaß, ihn „Onkel“
zu nennen, während der Rest der Menschheit noch nicht mal mehr mit einem
„durchlauchtigste Hochwürden“ durchkam – und in Richtung
seiner persönlichen Schatzkammer.

Wie bei Drachen nun mal üblich hatte auch Kalessan im Laufe seines langen
Lebens eine beachtliche Sammlung an Kostbarkeiten und Schätzen zusammengetragen.
Er war von seinen Reichtümern nicht ganz so besessen wie sein mehr oder
weniger verhasster Kollege Smahug, es reichte ihm also, sich lediglich ein paar
Stunden täglich an dem reinen Schein und dem süßen Klang des
Goldes zu ergötzen. In seiner Sammlung befand sich jedoch bereits ein mehrere
Jahrhunderte altes, rustikales Himmelbett +3, welches nahezu ausschließlich
aus Gold und Edelsteinen zu bestehen schien, dessen Vorhänge aus Seide
und dessen Decke aus Samt gemacht war.
Das Bett hatte er von einem Herrscher namens Futsch XIII. entwendet, der es
anscheinend sehr lustig gefunden hatte, Kalessan mit einer ganzen Armee anzugreifen.
Nicht mehr sehr lustig fand er später, sein ganzes Reich in Flammen zu
sehen und letztendlich Bekanntschaft mit dem Drachen selbst, beziehungsweise
mit seinem Verdauungssystem zu schließen. Kalessan erfuhr an Ort und Stelle,
dass Futsch XIII. aufgrund ernsthafter Schlafstörungen das gesamte Vermögen
seiner Ländereien für die Anfertigung dieses speziellen Bettes ausgegeben
hatte, was ihn angeblich wieder in Ruhe schlafen ließ. Dies erklärte
auch die vollkommene Abwesenheit jeglicher sonstigen Wertgegenstände auf
der Burg des Regenten, den Angriff seiner Armee auf Kalessan und dessen Reichtümer
sowie die militärische Stärke jener Armee, bestehend aus zehn invaliden
Greisen, die Futsch XIII. nur noch aus Loyalität zu dessen Vater dienten,
welcher sich übrigens aus Scham über seinen eigenen Sohn selbst das
Leben genommen hatte.

Das Bett war jedenfalls der einzige Gegenstand von Wert, den Kalessan hätte
mitnehmen können, was er letztendlich dann auch getan hatte. Ninnel würde
sehr bequem schlafen können.
Die Vorstellung, dass der Junge inmitten seiner Reichtümer schlafen würde,
behagte Kalessan jedoch nicht so recht, daher blieb ihm wohl oder übel
nichts anderes übrig, als den Jungen mit ihm zusammen in seiner Hauptwohnhöhle
schlafen zu lassen. In seiner menschlichen Gestalt brachte er das Bett in die
große Höhle zurück.

Ninnel beobachtete Kalessan, als dieser das zu seiner momentanen Größe
überproportional riesige, funkelnde Etwas an Bett hinter sich her schleifte
und bekam handtellergroße Augen.
„Oah, ist das etwa mein Bett?“
Sofort, als das Bett an Ort und Stelle – nämlich in der dunkelsten
Ecke der Höhle, genau gegenüber zu der, wo Kalessan selbst immer schlief
– platziert war, sprang Ninnel auf die Matratze und hüpfte fröhlich
auf und ab, was von einem stetig lauter werdenden Quietschen der bereits etwas
rustikaleren Federn begleitet wurde.

Mit Entsetzen beobachtete der Drache, wie sein schönes Bett langsam in
Grund und Boden gehüpft wurde. Schnelle Maßnahmen mussten ergriffen
werden:
„Wenn du dieses Bett kaputt machst… dann erzähle ich das deiner
Mutter!“
Das Quietschen verstoppte abrupt. Kalessan machte anscheinend ernsthafte Fortschritte
in der Kontrolle dieses kleinen Quälgeists. Die Gelegenheit nutzte er aus:
„Und jetzt leg dich sofort hin und schlaf!“

Tatsächlich verkroch sich Ninnel auch schon unter der Samtbettdecke.
Doch gerade als Kalessan sich umdrehte und zu seiner eigenen Schlafstätte
gehen wollte, ertönte es hinter ihm:
„Erzählst du mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte?“
„Eine was?“
„Eine Geschichte! Ansonsten kann ich immer so schlecht einschlafen.“

„Du willst eine langweilige Geschichte hören, von der du einschläfst?“,
fragte der Drache ungläubig.
„Nein, einfach nur eine Geschichte… bitte!“, fügte der kleine
Junge mit Rehäuglein hinzu.
Drachen sind gute Geschichtenerzähler, und Kalessan machte da keine Ausnahme.
Also ließ er sich nicht mehr lange bitten, setzte sich auf die Ecke vom
Bett, die am weitesten von Ninnels Kopf entfernt war und begann seine Geschichte,
die ihm für diesen Anlass angemessen erschien:

„Es
war einmal ein kleiner, roter Drache. Der konnte nicht verstehen, warum seine
Brüder und Schwestern, seine Eltern, ja seine ganze Familie immer so gemein
zu den Menschen war. Seine Verwandten sagten nur immer:
‚Von den Menschen halte dich fern, sie sind gemein und bösartig und
möchten uns alle umbringen!‘
Doch der kleine Drache konnte das nicht verstehen. Deswegen hatte er auch keine
Freunde unter den anderen Drachen und sie lachten ihn immer aus, wenn er bei
ihnen mitspielen wollte.
‚Du kannst ja noch nicht mal Feuer speien!‘, riefen sie.
Also beschloss der kleine Drache eines Tages, in die Welt hinaus zu ziehen und
sich selbst Freunde zu suchen. Er kam in einen Wald und in diesem Wald traf
er auf den Hasen. Der kleine Drache fragte den Hasen:

‚Möchtest du mein Freund sein?‘
Doch der Hase antwortete nur:
‚Ich, dein Freund? Was hätte ich von einer Freundschaft mit dir?
Du bist doch viel zu groß, um in meinen kleinen Bau zu passen und ich
habe keine Flügel, um dich in deiner Höhle in den Bergen zu besuchen
– nein danke!‘
Und der Hase verschwand wieder in seinem Bau und kam nicht mehr hinaus.

Da wanderte der kleine Drache weiter und traf auf den Fuchs:
‚Fuchs, möchtest du mein Freund sein?‘
‚Ich, dein Freund? Warum sollte ich dein Freund werden wollen? Du bist
ein Geschöpf der Lüfte und ich lebe am Boden. So groß wie du
bist, würdest du mich hier im Wald auch nur beim Jagen behindern. Geh weg,
ich brauche keinen Freund wie dich!‘
Der kleine Drache lief weiter durch den Wald und traf auf den alten Bären.

‚Bär, willst du vielleicht mein Freund werden?‘
‚Ach, junger Drache, meine Knochen sind schon so alt und müde, ich
mache es wohl nicht mehr lange. Außerdem beginnt jetzt bald der Winter
und ich werde mich in meine Höhle zum Winterschlaf zurückziehen. Und
in diese kleine Höhle passt du nie im Leben rein!‘
Da war der kleine Drache sehr traurig, und er ließ sich auf einer Lichtung
nieder und weinte gar bitterlich. Da kamen auf einmal aus dem Wald seltsame
Gestalten. Sie hatten weder Fell noch Schuppen, sondern nur komische, bunte
Leiber und rosa Köpfe mit kleinen Haarbüscheln darauf.

‚Das müssen Menschen sein!‘, dachte sich der kleine Drache.
Die Menschen umkreisten ihn und sahen ihn komisch an, da fragte sie der kleine
Drache:
‚Hallo, ihr Menschen! Wollt ihr meine Freunde sein?‘
Einer der Menschen hatte einen kurzen, glänzend silbernen Stab dabei. Mit
diesem Stab piekte er den kleinen Drachen in die Seite.
Der kleine Drache verspürte auf einmal einen heftigen Schmerz, und als
er sich umdrehte, floss dunkles, rotes Blut aus einer Wunde an seiner Seite.

Da wurde der kleine Drache sehr böse, er nahm den Menschen der ihn gepiekt
hatte und riss ihn in zwei Teile, sodass das Blut zu allen Seiten wegspritzte.
Auf einmal zogen die anderen Menschen auch alle silberne, glänzende Stäbe
und begannen, auf den kleinen Drachen loszugehen.
Da wurde der kleine Drache noch viel wütender, denn er hatte den Menschen
ja gar nichts getan. Also schnellte sein Kopf vor und biss dem nächst besten
Menschen in den Oberkörper, nahm ihn hoch und schüttelte ihn solange,
bis sein blutiger Unterleib abriss und weggeschleudert wurde. Angefacht durch
den Geschmack des Blutes, hieb er mit seinen scharfen Krallen nach den kleinen
Kreaturen links und rechts von ihm, und immer, wenn er sie traf, ertönte
ein matschiges Geräusch, und die Körper der kleinen Menschen wurden
zerfetzt.

Nach kurzer Zeit war der kleine Drache von entstellten, menschlichen Körperteilen
umgeben und von seinen scharfen Klauen und spitzen Fängen tropfte rotes
Blut. Gerade zerquetschte der kleine Drache einen weiteren Menschen auf dem
blutgetränkten Boden, als die letzte der komischen, kleinen Kreaturen sich
umdrehte, um zu fliehen.
Da nahm der kleine Drache all seine Kraft zusammen und spie eine blaue Stichflamme,
die den Menschen in seinen eigenen Körpersäften langsam kochte.
Der kleine Drache war sehr stolz auf sich und wollte seine neu entdeckte Kraft
sofort ausprobieren. Er breitete seine Flügel aus und hob ab.
Schon bald entdeckte er aus der Luft eine Ansammlung von komischen Holzgebilden,
die oben mit Stroh bedeckt waren. Überall um sie herum wuselten die kleinen
Kreaturen, die man Menschen nannte. Das war genau das, wonach er gesucht hatte!

Der kleine Drache landete mitten zwischen den Holzdingern und setzte einige
von ihnen mit einem mächtigen Feuerstrahl sofort in Brand. Das machte den
kleinen Drachen unglaublich stolz – endlich hatte er etwas gefunden, womit
er spielen konnte!
Die Menschen versuchten natürlich sofort allesamt zu fliehen… doch sie
würden meinem Zorn niemals entkommen!
Ich spie Feuerwelle um Feuerwelle, und diese miesen, erbärmlichen Kreaturen
vergingen allesamt in dem Flammenmeer, das ich entfachte. Oh, ich hatte Spaß
daran, zuzusehen, wie ganze Familien umkamen, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannten
und wie sich mir einige verzweifelte Menschen mit ihren kleinen Werkzeugen entgegenstellten,
nur um von mir zerfetzt zu werden…

Und dann war da dieser kleine Junge, der mich einfach nur anstarrte und sich
kein bisschen rührte. Er starrte mich sogar immer noch an, rührte
sich nicht und sagte kein Wort, als ich ihn aufnahm und dann langsam…“

Drachen
sind zwar sehr gute Geschichtenerzähler, aber wahnsinnig schlechte Pädagogen,
zumindest nach menschlichen Maßstäben.
Denn auf einmal erreichten die Worte, die Kalessan aussprach, auch den mitdenkenden
Teil seines Gehirns, und ihm wurde bewusst, was er da eigentlich redete.
Schockiert wagte der Drache einen Blick in Ninnels Richtung, doch der kleine
Junge war mit einem friedlichen Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen.

Es hätte auch eine von Schrecken verzerrte Grimasse sein können –
Kalessan hatte noch so seine Probleme mit dem Deuten menschlicher Gesichtsausdrücke…

Am
nächsten Morgen wachte Kalessan benommen und mit knurrendem Magen auf.
Der Drache war niemals gerne über einen längeren Zeitraum hungrig
und machte sich auch sofort auf die Suche nach etwas Essbarem. Seltsamerweise
wurde er noch in seiner Wohnhöhle fündig. Geistesabwesend steckte
er sich den kleinen Leckerbissen in sein Maul und lutschte darauf herum, sich
darüber wundernd, da er seine Nahrungsmittel doch sonst immer nur frisch
bezog und nie einlagerte. Da ertönten mit einem Mal die Alarmglocken der
Erkenntnis in Kalessans Kopf und der Drache spie sein Beinahe-Frühstück
schleunigst in seine Pranke, bevor es sich der vernünftigere Teil seines
Gehirns anders überlegte.

Triefend vor draconischem Speichel saß Ninnel in Kalessans Hand und sah
den Drachen vorwurfsvoll an.
„Erzähl mir nicht, dass dein Mund nicht stinkt!“
„Ähm…“
„Wolltest du mich gerade wirklich auffressen?“
„Ähm… nein!“, suchte Kalessan fieberhaft nach einer Ausrede
für seine morgendlichen Anlaufschwierigkeiten, „Ich wollte… dich
nur waschen! Wir Drachen reinigen uns so, verstehst du?“

Ninnels Gesichtsausdruck sagte selbst Kalessan, dass er schon über eine
normale Wäsche nicht sehr erfreut gewesen wäre.
„Ihr fresst euch gegenseitig auf, oder wascht ihr euch wirklich so?“,
fragte der Junge.
„Habe ich dich aufgefressen?“
Ninnel überlegte kurz:

„Nun… nein?“
„Also habe ich dich gewaschen, siehst du!“
„Ich fühl mich aber gar nicht sauber!“
„Halt den Mund!“, entgegnete der Drache und setzte Ninnel wieder
auf den Boden seiner Höhle, um sich Gedanken darüber zu machen, wo
er jetzt etwas zu Essen herbekommen könnte, ohne den Jungen zur Lösung
dieses Problems verwenden zu müssen. Einige Sekunden lang herrschte Stille,
bis Ninnel das Schweigen unterbrach:

„Du, Onkel Kalessan?“
„Ja?“, antwortete der Drache entnervt.
„Das war eine schöne Geschichte gestern Abend!“
„Halt den… oh… danke!“, sagte Kalessan, sichtlich überrascht.
„Warst du das in der Geschichte?“

Der Drache fuhr zusammen und giftete den Jungen an:
„Wie weit hast du mitgehört?“
Ninnel zuckte mit den Schultern.
Kalessan schnaubte, drehte sich von dem Kind weg und hielt es für besser,
dessen Frage nicht zu beantworten, als schon die nächste kam:
„Du, Onkel Kalessan?“

„Ja?“
„Meine Kleider sind ganz nass, ich brauche neue!“
Der Drache stöhnte auf. Wer hatte denn schon mal davon gehört, dass
einem roten Drachen statt Jungfrauen zusätzlich zu vegetarischen Nahrungsmitteln
sogar noch Kleider als Opfergaben dargebracht wurden? Er beschloss, wieder auf
jene guten, alten Methoden zurückzugreifen, wenn er die ganze Sache hier
hinter sich gebracht hatte – es galt, einen Ruf zu wahren!
Wenigstens musste er beim Besorgen von Kleidung und Nahrungsmitteln nicht mit
diesem Quälgeist zusammen sein…

Als
die folgenden Tage vergingen, pendelte sich eine gewisse Form der Beziehung
zwischen Kalessan und Ninnel ein, die am ehesten mit der Beziehung zwischen
Haustier und Herrchen zu vergleichen ist. Leider konnten sich beide Parteien
nicht darauf einigen, welcher von ihnen denn nun das Haustier sei.
Kalessan entdeckte, dass Ninnel durchaus zu ertragen war, wenn der Drache ihm
Geschichten erzählte. Und ein Wesen, das schon mehrere Millennien auf dem
Buckel hat, kann so einiges an Geschichten erzählen, wobei Kalessan jedoch
darauf achtete, nicht mehr allzu persönlich in seinen Ausführungen
zu werden und wichtige Details über seine Rasse und sein Leben wohlweislich
vorzuenthalten.
Ninnel wurde einigermaßen ruhig gehalten, sein Nachschub an Versorgungsmitteln
und Kleidung war gesichert und Kalessan begann, ein Interesse an dem Jungen
zu entwickeln, das immerhin dem eines Insektenforschers gegenüber einer
Zecke gleicht, die sich an seinem Körper festgesaugt hat.
Es war eigentlich ein Zustand, der in dieser Form hätte beibehalten werden
können, hätten sich nicht die Ereignisse der zweiten Woche auf einmal
überschlagen…

Kalessans
Geruchsinn und Gehör hatten ihm schon einige Zeit vorher die folgende Begegnung
angekündigt, und normalerweise war er ein wenig Unterhaltung dieser Art
nicht abgeneigt, dennoch hätte er es in diesen paar Wochen lieber vorgezogen,
eine derartige Begegnung zu vermeiden. Sie wurde eingeleitet mit den Worten:
„A-HA, übles Echsenmonster, euer letztes Stündlein geschlagen.
Flehet um Gnade, und ich verspreche euch, bei meiner Ehre, dass ich es schnell
machen werde!“
„Och nö, einer von denen!“, dachte sich Kalessan und nahm sich
den Drachentöter mal näher unter die Lupe. Wie zu erwarten war, trug
er eine blendend strahlende und aufpolierte Ritterrüstung, die in goldenen
Farben leuchtete und einen gleichfarbigen Helm, dessen Visier momentan hochgeklappt
war und ein babypopoglattes Gesicht mit kantig geschnittenen Zügen offenbarte.
Die Berufung des Drachentöters wurde noch von seiner langen Lanze sowie
seinem Schild, auf dem ein Drache in einem durchgestrichenen, roten Kreis abgebildet
war, unterstützt.

Das Pferd, auf dem er saß, stand offensichtlich unter Drogen – ansonsten
hätten auch keine 10 Pferde es in Kalessans Höhle bekommen, was ja
sowieso schon ein Widerspruch in sich ist. Auf der anderen Seite würde
ein unter Drogen stehendes Pferd dem Ritter wenig Nutzen im Kampf sein, es musste
sich also um ein ausgebildetes, erfahrenes Tier handeln, dessen Angstschweiß
Kalessan nichtsdestotrotz lieblich duftend in die Nase stieg – wer konnte
es dem armen Tier verübeln? Ein Reittier verrät häufig eine Menge
über seinen Reiter – bei jenem Ritter und seinem Ross handelte es
sich also um ein eingespieltes, mit Drachen erfahrenes Team, was somit ein wenig
vorsichtiger zu behandeln war als der ganze restliche Heldenschund.

Kalessan fand, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen:
„Oh, bitte nicht heute, könnten wir dieses Treffen nicht ein wenig
verschieben? Seht ihr denn nicht, dass ich gerade damit beschäftigt bin,
dem Kleinen hier eine Geschichte zu erzählen?“
Ninnel winkte dem Ritter grinsend zu. Dessen Augen weiteten sich vor Schrecken.
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“

„Wollt ihr mal wissen, wie oft ich diesen Satz in genau demselben Wortlaut
in meinem Leben schon gehört habe?“, erwiderte Kalessan, „Genau
164mal, diese Begegnung hier mitgerechnet. Und genauso viele kleine Jungen wurden
nicht aus meinen Klauen befreit, also, ihr dürft euch jetzt entfernen
– heute ist euer Glückstag!“
„Faule Reden von gespaltenen Zungen! Ihr könnt mich mit eurer Prahlerei
nicht ängstigen! Denn sehet: die Anti-Drachenlanze – sie hat noch
jedem eurer Rasse, der sich mir in den Weg gestellt hat, den Garaus gemacht!
Außerdem bin ich in meinem Auftrag nicht alleine: Mein Gott Helmchen ist
mit mir, er wird mich in diesem Kampf beschützen!“

„Boah, ein Kampf – wirst du gegen den Mann da kämpfen, Onkel
Kalessan?“, rief Ninnel freudig aus.
„Halt du dich da raus, Junge! Hört mal, Ritter, ich will keinen Ärger
vor dem Kleinen hier. Also, wer hat euch angeheuert und wie hoch ist seine Bezahlung?
Ich zahle euch das Doppelte!“, brachte Kalessan mühsam hervor, mit
dem Hintergedanken, später von Karlmax das Dreifache zurück zu verlangen.
„Ihr könnt das schmutzige Geld aus eurem Hort behalten, Drache, ich
will es nicht! Ich arbeite für die Ehre, für Helmchen und momentan
für die liebreizende Lady Syrop, die euren Kopf verlangt hat!“

Kalessan seufzte – diese Konfrontation war also nur auf eine Art und Weise
zu lösen. Den Namen Syrop musste er sich wohl mal merken. Ein Exempel zu
statuieren würde sicherlich eine spaßige Aufgabe werden. Momentan
erinnerte er sich jedoch an Karlmax‘ Bitte, seinen Sohn mit allzu schrecklichen
Gewaltdarstellungen zu verschonen und wandte sich an den Jungen:
„Pass auf, wir spielen mit diesem Herren hier jetzt mal eine Runde Verstecken,
ja? Du drehst dich gleich um und zählst laut bis… 48, dann darfst du
den Ritter in dieser Höhle suchen gehen. Aber du darfst dich kein einziges
Mal vorher umdrehen, egal was du von uns beiden hören solltest, ansonsten
ist das ganze Spiel verdorben! Verstanden?“
Ninnel nickte aufgeregt.

Dann sprach Kalessan erneut zum Ritter:
„In Ordnung Ritter, wir beide sind bereit, es kann losgehen! Und im Übrigen
werdet ihr nach näherer Untersuchung feststellen können, dass meine
Zunge entgegen aller öffentlichen Vorstellungen nicht gespalten
ist.“
Damit nickte er Ninnel zu, der sich umdrehte, die Augen zuhielt und mit dem
Zählen begann:

„1…“
Gleichzeitig war der Kampfschrei des Ritters sowie das Wiehern seines Pferdes
und lautes Hufgetrappel zu hören, dann das mächtige Rauschen eines
großen, sich schnell bewegenden Körpers, das Splittern von Holz,
ein kurzes „BUH!“ von einer tiefen, machtvollen Stimme, das erneute,
diesmal von Angst erfüllte Aufwiehern des Pferdes, ein dumpfer Aufprall,
sich rasch entfernendes Hufgetrappel.
„Meine Lanze! Mein Pferd!“

„20…“
„Na wartet – sehet: das Anti-Drachenschwert!“
„24…“
Das Geräusch schabenden Metalls, Fußgetrappel, von scharfen Gegenständen
durchschnittene Luft, das Bewegen des großen Körpers, das Stöhnen
und die Rufe des Ritters, der Aufprall von Metall auf einen anderen, harten
Körper.

„Aber das Schwert… warum… warum wirkt es nicht?“
„37…“
Die blitzartige Bewegung einer großen Masse, ein kurzes *klong*, ein Aufstöhnen
des Ritters, das lange Schliddern eines metallischen Gegenstands auf dem Boden.
„Nein, nicht auch noch mein Schwert!“
„43…“

Das kurze, unangenehme Geräusch von spitzen Gegenständen auf glatter
Metalloberfläche, ein erneuter, panischer Aufschrei des Ritters.
„45…“
Ein dumpfes Grollen, das Geräusch von etwas sehr großem, sich
öffnendem
.

„46…“
„Nein, bitte, tut das n…“
Die Stimme des Ritters wurde gedämpft.
„47…“
*GLUCK*
„48… ICH KOMME!“

Ninnel machte die Augen auf und drehte sich um. In der Höhle stand Kalessan,
als ob nichts geschehen wäre und sah ihn nervös-freundlich an. Der
Junge begann, die Höhle nach dem Ritter zu durchsuchen. Es dauerte allerdings
nicht lange, bis er bemerkte, dass es in Kalessans Wohnraum keinerlei Nischen
und überhaupt jegliche Art von Versteck gab, außer vielleicht unter
Ninnels Bett, aber dort lag der Ritter auch nicht.
„Hat er sich vielleicht in deiner Schatzkammer versteckt?“
„Ähm… nein!“
„Und ist er vielleicht nach draußen gegangen?“

„Nein!“
Ninnel sah enttäuscht aus.
„Dann weiß ich auch nicht, wo er ist – kannst du mir nicht
einen Tipp geben? Bittebittebitte!“
„Na gut, ähm… ich habe… ihn weggezaubert, du kannst ihn gar nicht
finden! War ein kleiner, fieser Scherz von mir, haha.“, sagte Kalessan.

Der Junge machte sofort große Augen.
„Boah, du hast ihn echt weggezaubert? An einen anderen Ort?“
„Ähm… in gewisser Weise, ja…“
„Kannst du mich auch mal wegzaubern? Bittebittebitte, Onkel Kalessan!“
„Das würde ich liebend gerne machen, aber ich fürchte, deine
Eltern hätten etwas dagegen.“

Der Drache hasste es, wenn Ninnel mit seinen großen, flehenden Augen ihn
so bittend anstarrte, gerade so als ob es ihm gefallen würde, das Schicksal
jenes Ritters zu teilen… dass er die gleiche Blutgruppe wie sein Vater hatte,
machte es für Kalessan auch nicht einfacher.
„Kannst du dann den Ritter wieder herholen, ich will noch mal Verstecken
spielen, diesmal aber ohne Wegzaubern!“
„Ähm… ich fürchte, dieser Ritter ist jetzt leider zu beschäftigt,
um noch mit dir spielen zu können, tut mir leid.“, sagte Kalessan
und rülpste laut und voluminös.

Das Kind setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck auf:
„Meine Mama hat gesagt, das gehört sich nicht!“
Der Drache zog eine Augenbraue hoch:
„Pah, das ist mal wieder typisch für eure Spezies, nur aus Höflichkeitsgründen
ganz normale Körperfunktionen zu unterdrücken – wenn du so etwas
unterdrückst, dann verleugnest du dich selbst, Kleiner!“

Er traf auf zwei große Abgründe der Verständnislosigkeit in
Form von Ninnels Augen.
„Und wo ist das Pferd von dem Ritter?“, wechselte der Junge schnell
wieder das Thema.
Kalessan dachte an sein privates Wolfsrudel im nahe liegenden Wald, das mittlerweile
ziemlich ausgehungert sein dürfte.
„Auch weggezaubert.“

„Och menno, das ist doof, keiner will mit mir spielen!“, entgegnete
Ninnel enttäuscht und trat einen kleinen Stein auf dem Boden weg. Sein
Blick hellte sich jedoch sofort auf, als der Stein beim Aufprall ein kleines
*klonk* von sich gab und er das Schwert des Ritters in der Höhle liegen
sah. Sofort rannte er hin, hob die Waffe unter Aufbietung aller seiner Kräfte
auf und richtete sie auf Kalessans Brust.
„Ha HA, sieh mal, ich bin ein gefährlicher Drachentöter!“,
rief er freudig aus.
Kalessan verdrehte die Augen.
„Führ mich nicht in Versuchung, dich doch noch wegzuzaubern, ja?“

„Hä?“
„Gib mir einfach die Waffe, jemand wie du sollte nicht mit so etwas herumspielen.“,
seufzte der Drache und nahm Ninnel das Schwert weg, was dieser mit einem beleidigt-enttäuschten
Blick quittierte. Glücklicherweise wusste er es besser, als jetzt mit einem
großen Heul- und Schreikrampf anzufangen. Stattdessen fragte er:
„Kannst du mir vielleicht beibringen, wie man mit einem Schwert kämpft?“
„Ich könnte es vielleicht, aber ich würde es selbst dann nicht
tun, wenn ich die Erlaubnis von deinem Vater hätte. Denn wie du siehst,
bin ich ein großer, Furcht einflößender Drache und habe nicht
die allergeringste Lust, noch so einen Möchtegern-Drachentöter heranzuzüchten,
der nach meinem Blut lechzt und nach dem Kampf mit mir eh nur winselnd und ängstlich
am Boden kriecht.“

Ninnel reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
„Ich werde mal Drachentöter, wenn ich groß bin – dann
musst du vor mir Angst haben und mir gehorchen und vor mir auf dem Boden kriechen!
Dann kann ich machen, was ich will. Und dann habe ich ein eigenes Schwert!“
Kalessan hatte schon befürchtet, dass er so etwas sagen würde.

„Meinetwegen. Wenn du mal groß bist und das hier immer noch nicht
verdaut haben solltest – ich warte auf dich! Für heute gibt es jedenfalls
keine Geschichten mehr – du kannst ja mal darüber nachdenken, wie
wichtig es wirklich für dich ist, ein Drachentöter zu werden!“
Mit diesen Worten wendete er sich von dem Kind ab, legte die Klinge zu den Aberhunderten
anderer Anti-Drachenschwerter in seiner Schatzkammer und versiegelte den Raum
wieder.
Ninnel würde heute unausstehlich werden…

Ein
jeder kennt diese Tage, an denen einem hintereinander nur grauenhafte Dinge
passieren und man sich so vorkommt, als ob ein riesengroßer Hammer der
Negativität einen langsam und Stück für Stück in die Wand
der vollkommenen Verzweiflung nageln würde. Kurzum, es scheint so, als
hätten sich sämtliche Götter gegen einen verschworen.
Kalessan kannte die Götter… mit einigen von ihnen traf er sich sogar
mehr oder weniger regelmäßig zu einem kleinen Plausch. Ihnen schob
er also nicht die Schuld in die Schuhe für einen dieser Tage, der in diesem
Fall schon mit einem besonders miesen Traum begann:

Ein alter Mann saß inmitten von zwei Dutzend schreienden Kindern und lächelte
sie an, während sie fröhlich kreischten und in die Hände klatschten.
„Oh bitte, erzähle uns noch eine Geschichte!“
„Ja, erzähl uns noch eine Geschichte!“

„Oh ja, bittebittebitte!“, tönte es von allen Seiten her.
Der alte Mann lachte laut auf und strahlte die Kinder ringsum nur noch freundlicher
grinsend an.
„Aber natürlich, ihr kleinen Racker. Also, passt auf: Es war einmal
ein kleiner, roter Drache…“
Die Kinder unterbrachen ihn im Chor:
„Die Geschichte, wie du von den Menschen grundlos angegriffen wurdest
und ihr Dorf vernichtet hast, kennen wir aber schon!“

„Genau, erzähl lieber noch mal die Geschichte, wie die Menschen deine
Partnerin und alle deine Jungen umgebracht haben!“
„Ja, genau! Bitte, Onkel Kalessan!“
„Ja, bitte, Onkel Kalessan!“
Onkel Kalessan…
Onkel Kalessan…
Kalessan…

„Onkel
Kalessan?“
Der Drache schreckte hoch. Die zwei Dutzend Kinder verschmolzen zu einem einzigen,
das direkt vor Kalessans Schnauze stand.
„Wasch?“, murmelte der Drache, vom alleinigen Anblick des Quälgeistes
schon vollkommen entnervt.
„Du hattest einen Albtraum und warst sehr laut.“, sagte Ninnel,
der anscheinend ebenfalls unfreiwillig geweckt wurde und noch seinen ihm viel
zu großen, anscheinend sündhaft teuren Schlafanzug trug, den Kalessan
als „Geschenk“ aus einer der umliegenden Städte erhalten hatte.

„Oh… Habe ich irgendwas verdächtiges gesagt, wovon du nichts erfahren
solltest?“
„Nein, du hast mich nur geweckt.“, erwiderte der Junge vorwurfsvoll.
„Na dann ist ja alles in Ordnung.“, entgegnete Kalessan und gähnte
herzhaft.
Ninnel hielt sich die Nase zu und starrte in den Schlund seines Aufpassers.
„Du hast da lauter Stofffetzen zwischen den Zähnen!“

Kalessan schloss seine Kiefer hastig.
„Oh… ähm… wo kommen die denn her?“
So langsam hatte der Drache es satt, seine Vorlieben für fleischliche Genüsse
vor dem Jungen geheim zu halten.
„Hast du etwa einen Menschen aufgefressen?“
„JA, DAS HABE ICH!“

So, jetzt war es raus… eine ehrliche Frage, eine ehrliche Antwort… da konnte
er genauso gut weitermachen:
„Ich habe schon hunderte Menschen gefressen, ach was, tausende, sogar
so kleine Grünschnäbel wie dich – und ich habe dabei nicht mal
mehr mit der Wimper gezuckt, sondern genossen, wie sie geschrieen und gebettelt
und gezappelt haben und wie ihre Knochen zwischen meinen Zähnen knackten.
Ich mag den Geschmack ihres Fleisches, ihres Blutes und ihre kleinen unbehaarten
Körper, die einem nicht so schwer im Magen liegen wie das ganze andere
Gewusel auf diesem verdammten Planeten. Na, wirst du nun winselnd auf dem Boden
kriechen, weil du jetzt weißt, dass ich ein übler, gewalttätiger
Menschenfresser bin?“
„Kommt drauf an: Wirst du mich jetzt auch fressen?“

„So sehr ich deine kriecherische Rasse und vor allem anderen dich
verachte – nein! Ich habe deinem Vater etwas versprochen und ziehe das
jetzt auch durch.“
„Na dann ist ja alles in Ordnung!“, erwiderte Ninnel fröhlich
und löste seinerseits fast einen Schockzustand bei Kalessan aus.
„Was soll das heißen… ich habe dir gerade eröffnet, dass
ich schon unzählige Menschen umgebracht habe und du hast immer noch keine
Angst vor mir?“

„Nun, von irgendwas musst du ja leben… außerdem hast du gerade
auch gesagt, dass du mich nicht fressen wirst, warum sollte ich also Angst haben?“
Weil ich dich auf hunderte andere Arten umbringen könnte!, dachte
sich der Drache, sprach diesen Gedanken aber nicht laut aus, sondern starrte
nur verblüfft auf den kleinen Jungen, der sich unbesorgt von ihm abwandte
und mit anderen Dingen beschäftigte.
Dies war wohl die berühmte Unbeschwertheit eines Kleinkindes…
Wäre die Welt doch nur so simpel!

Nun, anscheinend würde sich der Drache in seinen Eigenarten jetzt doch
nicht so drastisch zurückhalten müssen, wie er es die ganze zurück
liegende Zeit zu Ninnels Anwesenheit in seiner Behausung getan hatte… es sah
so aus, als würde der folgende Tag doch gar nicht so schlecht werden.
Doch wie schön wäre das gewesen…

Die
seltsamsten Ereignisketten werden manchmal durch die unpassensten Sätze
begonnen. In diesem Fall lautete der Satz: „Lieferung für Kalessan!“

Dies war zunächst nicht verwunderlich, da an jenem unheilvollen Tag genau
eine Woche vergangen war, seitdem der Drache auch Doofdorf, eine weitere Siedlung
in seiner Umgebung, freundlich dazu gebeten hatte, ihm wöchentlich Opfergaben
zu bringen. So viel Freundlichkeit kann kein Dorf widerstehen, von daher kam
die Lieferung der verlangten Nahrungsmittel auch äußerst rechtzeitig.
„Stellt das Zeug einfach irgendwo hier hin, meidet dabei die Pfützen
und haut dann wieder ab, ja?“
Kalessan sah sich die beiden Herren, die die bunt geschmückten Körbe
voll vegetierender Nahrungsmittel mitbrachten, genau an. Normalerweise wurde
diese Aufgabe von unbeliebten, dreckigen und vor allem entbehrlichen Dorftrotteln
erledigt, diese beiden schienen jedoch recht kräftig zu sein. Außerdem
hatten sie beide exakt die gleiche, uniformähnliche Kleidung an, auf die
groß die Buchstaben „LL“ aufgestickt waren. Kalessan ging
im Kopf schnell alle bekannten Wappen von Rittern und Drachentötern durch
und untersuchte die Menschen auf Anzeichen von alten Drachentötertricks.
Als er nicht fündig wurde, fragte er nach:

„Wofür steht das ‚LL‘ auf eurer Kleidung?“
„Wat? Oh, dat steht für ‚Lennys Lieferungen‘, Zustelldienst
alla ersta Jüte, zu Diensten!“
„Oh toll, freut mich… ihr dürft euch dann jetzt verpissen!“
„Eenen Moment noch, Meesta, wat solln wa’n mit der Jungfroo da machn?“,
erkundigte sich der Zusteller.

Erst jetzt bemerkte Kalessan die an einen Holzpfahl gefesselte Frau, die von
einem dritten Zusteller auf einem kleinen, rollbaren Gefährt herein geschoben
wurde. Angesichts des offensichtlichen Alters der Frau von über 50 Jahren
hätte die Bezeichnung Jungfrau jedoch unzutreffender nicht sein
können.
„Was soll das werden, ich habe gar keine Jungfrau bestellt. Und schon
gar nicht so eine alte Schrulle wie die da!“, empörte sich Kalessan
bei dem obersten Zusteller.
„Hey, das habe ich gehört, Schätzchen!“, rief die Jungfrau
aus.

„Ick hab ooch nur meene Anweisungen, weeste, und ick wees ooch nich, wat
ick mit so ner alten Schraube anfangen soll. Also, wohin mit dem Teil?“
Kalessan hatte absolut keine Lust, sich jetzt mit einem derartig grauenhaften
Akzent weiterhin auseinanderzusetzen und entgegnete:
„Na gut, na gut, stellt sie da drüben ab.“
Der Zusteller tat, wie ihm geheißen ward. Damit war anscheinend schon
alles in der Höhle abgeliefert, was die drei Herren dabei hatten. Dennoch
schienen sie noch nicht zu beabsichtigen, Kalessans Behausung zu verlassen.
„Jut, dat macht dann Eensfuffzich Bearbeitungsjebühr biddesehr.“,
ließ sich der oberste Zusteller vernehmen.

„Bitte, was?“
„Na, wir machen unsre Arbeit ja ooch nich umsonst, wa?“
„Ja toll, aber von mir werdet ihr kein Geld bekommen, also haut ab!“,
giftete Kalessan die Menschen an.
„Was wollen die Männer da von dir?“, fragte der anscheinend
gerade erneut aus seinem Bett gekrochene Ninnel.
„Gar nichts wollen die. Gar nichts bekommen die!“

„Jetz hör mal zu, Meesta, so wie ick det sehe, is dat hier ne bereits
bezahlte Nachnahmebestellung, in der aber noch nich die Bearbeitungsjebühr
für unser Unternehmen enthalten war, und ick werd diese Höhle hier
nich verlassen, bis ick die ausjezahlt bekommen hab, klar? Wennde willst, kannste
det Finanzielle ja jerne mit den Absendan rejeln, ick will jetz jedenfall meen
Jeld habn!“
„Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du hier vor dir hast und mit wem
du so unverfroren sprichst?“, zischte der Drache.
„Du kannst mir natürlich jerne drohen, aber ick sach dir, mit den
Jewerkschaften willste dir ooch nich anlejen! Und vor dem Kleenen da willste
uns doch sicherlich nüscht antun, nich oder?“
„Ha, jetzt hat er dich aber dran bekommen, Schätzchen!“, warf
die Jungfrau ein.

„Du da drüben hältst mal brav die Klappe, ja?“
Eine Stimme ertönte:
„A-HA, übles Echsenmonster, so habe ich euch doch noch gefunden.
Nun hat euer letztes Stündlein geschlagen!“
Oh nein!, dachte sich Kalessan, als der dazu passende Ritter, der ein
Zwilling zu dem letzten Eindringling hätte sein können, seine Höhle
betrat.

„Und was muss ich da sehen! Ihr schändliches Untier haltet eine holde…
Jungfrau?… ähm… gefangen und dazu noch… drei Lieferanten von ‚Lennys
Lieferungen’…?“
„Oh, schau mal, Onkel Kalessan, noch ein Ritter zum Webzaubern!“,
rief Ninnel freudig aus.
Der Drachentöter keuchte, schien aber angesichts dieser wirklichen Greueltat
seine Fassung wieder zu gewinnen:
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“

„165…“, dachte sich der Drache.
„Die edle Lady Syrop hat also richtig daran getan, mich mit dieser Aufgabe
zu betreuen!“
„Wer zur Hölle ist diese Lady Syrop eigentlich?“, unterbrach
Kalessan den Drachentöter verwirrt.
„Das tut jetzt nichts zur Sache, ihr solltet nur ihren Namen wissen, bevor
ich euch umbringe!“
„Ey, aber erst will ick meen Jeld haben, damit dat klar is, ja?“

Ein weiterer Mensch betrat die Höhle:
„Boah, ein Drache!“
Der Kleidung nach zu urteilen, schien es sich um einen jungen Mann aus einer
anderen Dimension zu handeln – ganz genau das, was Kalessan jetzt noch
brauchte!
„Wow, ein Drache wird mich auf meine Weltenrettermission schicken, das
ist ja so cool!“
„Aber ich war zuerst da, Fremder aus einer anderen Dimension, von daher
werde ich ihn umbringen, bevor er euch auf so eine unheilige Mission schicken
kann!“, erwiderte der Drachentöter.

„Und was soll ich dann hier?“, fragte der Reisende.
„Hey, ich habe meine besten Kleider extra für diesen Anlass angezogen,
und ich bin nicht einfach nur zum Spaß hierher gekommen!“, rief
die Jungfrau dazwischen, deren Kleidung sich bei genauerem Betrachten als bemerkenswert
schäbig entpuppte.
„Jenau, und wat is dann mit meenem Jeld, wie soll ick dat dann bitte bekommen?“
„Ja, und was ist mit meinem Geld?“, erkundigte sich die
nächste Gestalt, die die Höhle betrat und sich als der alte Angestellte
aus Kalessans Wald entpuppte, der offensichtlich sein Gehalt einfordern wollte.

Kalessans Augen zuckten nervös von einem Menschen dieser kleinen Ansammlung
in seiner Höhle zum anderen – sein rechtes Augenlid begann, unkontrolliert
zu zittern.
„Oh, ihr seid doch der alte Mann, der mich hier hereingeschickt hat!“,
sagte der transdimensional Reisende zum Alten.
„Hmja, ich sehe schon, der Drache hatte anscheinend noch keine Möglichkeit,
sich mit euch zu… beschäftigen… nun, sieht so aus, als müsste
er mir zuerst meine Bezahlung geben, ansonsten geschieht hier gar nichts!“,
gab dieser zurück.

„Oh, er bezahlt euch dafür, dass ihr Leute zu ihm schickt? Warum
denn?“
„Ähm… vergesst es!“
„Du, Onkel Kalessan, was wollen die denn alle hier?“
Kalessans linkes Augenlid begann nun ebenfalls zu zucken.
„Kommen wir jetzt langsam mal voran? Ich habe heute noch zwei Duelle zu
bestreiten und eine bösartige Räuberbande auszulöschen, mein
Terminkalender lässt keinen Platz für Verspätungen!“, machte
sich der Ritter lautstark kund.

„Und wir ham heute ooch noch die eene oder andre Lieferung zu machen,
näch?“
„Ich werde langsam steif an diesem ollen Pfahl hier!“
„Ich kann es kaum erwarten, diese Welt vor dem Bösen zu retten!“
„Und ich kann es kaum erwarten, endlich mal wieder meine wohlverdiente
Bezahlung zu bekommen!“
„Du, Onkel Kalessan, ich habe Hunger!“

Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf den Drachen, dessen ganzer Kopf
nun sichtbar vibrierte.
Kalessans Ausbruch traf sie schnell, hart und vor allem unerwartet.

In
einem Ausbruch verzweifelter Gutmütigkeit zahlte er den Alten und die Lieferanten
aus, vereinbarte einen neuen Termin mit dem Drachentöter
(„Und was ist, wenn ihr eure Gefangenen in diesem Zeitraum umbringt? Das
kann ich nicht zulassen!“
„Aber dann fällt eure Rache doch nur umso schrecklicher aus, nicht
wahr?“

„Oh ja – also wagt es nicht, Echse!“)
und schickte den Fremden aus der anderen Dimension auf eine Reise. Doch diesmal
war es ausnahmsweise nicht die Reise in Kalessans Magen, sondern wirklich in
einen anderen Teil des Kontinents:
„Also passt auf, ihr nehmt diesen Brief hier und übergebt ihm einem
anderen Vertreter meiner Art namens Morkulebus dem Schwarzen. Ihr findet ihn
in den finsteren Sümpfen des Schwarzen Todes.“
„Boah, das hört sich voll cool an! Und was muss ich dann machen?“

„Morkulebus wird wissen, was mit euch zu tun ist – nur dürft
ihr diese wichtige Botschaft niemals verlieren und niemand außer Morkulebus
darf sie lesen, nicht einmal ihr selbst!“
„Aha, und wo sind diese finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes?“,
fragte der Reisende.
„Ähm… das herauszufinden ist Bestandteil deiner gefahrvollen Reise.
Ich kann dir nur die Tür zeigen, hindurchgehen musst du selbst –
sie ist da drüben, und jetzt hau ab!“, fuhr Kalessan ihn mit den
letzten Worten an.

Der Fremde ließ sich ein letztes „Cool!“ vernehmen, packte
den Brief stolz in seine Hosentasche und machte sich frohen Gemüts auf
seine gefahrvolle Reise in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes.
Den Großteil der ungewollten Besucher war Kalessan damit los. So blieb
nur noch eine Person übrig:
„Finde ich ja ganz toll, wie du die alle abgewimmelt hast, Schätzchen.
Kannst du dich jetzt vielleicht auch mal um mich kümmern, ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn man so lange auf seinen Tod warten muss.“, sagte die
Jungfrau mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme.

„Oh, wirst du sie jetzt fressen, Kalessan?“
„Sei ruhig, Ninnel! Und du da kannst mir nicht wirklich verklickern, dass
du noch eine Jungfrau bist.“, richtete sich der Drache an die immer noch
an ihren Holzpfahl angebundene, angebliche Jungfrau.
„Bin noch so frisch wie am ersten Tag, Schätzchen. Rein und unversehrt,
zart und schmackhaft.“
„Deine Opferbereitschaft ist wirklich hinreißend. Du hast nicht
zufällig sämtliche Taschen mit Kalk vollgestopft, der sich in meinem
Magen ausdehnen und mich verrecken lassen sollen?“

„Ähm… nein?“, antwortete die sichtlich überraschte und
nun nicht mehr ganz so selbstbewusste Jungfrau.
„Erstens habe ich schon bessere Lügner gesehen, zweitens stinkst
du überall nach dem Zeug und drittens funktioniert es sowieso nicht. Außerdem
hätte ich dich eh nicht gefressen, mit diesem Quälgeist in meiner
Nähe…“
„Och, warum denn Kalessan – ich will sehen, wie du sie frisst! Och
bitte, mir zuliebe!“, bettelte Ninnel lautstark.

„Danke für deine Unterstützung, Kleiner!“, entgegnete
die Jungfrau säuerlich.
„Ich sagte, dass du den Mund halten sollst, Winzling!“, brauste
Kalessan auf, der den Stress von vorhin anscheinend noch nicht ganz verarbeitet
hatte.
„Ich will das jetzt aber sehen! Ich will, ich will, ichwillichwillichwill…“
„Wenn du nicht sofort ruhig bist, dann setzt es was, Kleiner!“,
knurrte der Drache drohend.

„Ichwillichwillichwillichwillichwill…“
Einer von Kalessans Nervensträngen riss innerlich mit einem lauten Knall.

Der Drache schlug zu.
Der Junge war still.
„Na endlich ist Ruhe!“, sagte Kalessan, der sich wieder der Jungfrau
zuwandte, welche schockiert auf den Jungen starrte.

„Wie… wie konntet ihr nur?“
„Manchmal muss man halt harte Maßnahmen ergreifen, wenn man seinen
Willen durchsetzen will… Schätzchen!“, fügte der Drache in
spottendem Tonfall hinzu.
„Aber… aber er war doch noch ein kleines Kind!“
„Ja, und jetzt gibt er endlich Ruhe!“
Weil ihr ihn enthauptet habt!

Kalessan sah Ninnel an. Der ungewöhnlich schlaffe Körper des Jungen,
eine sich ausbreitende, rote Pfütze und nicht zuletzt der mehrere Meter
entfernt liegende Kopf des Kindes, welcher noch immer eine sehr erwartungsvolle
„Ichwill…“-Miene trug, sprachen nicht gerade für Kalessans
Unschuld.
Menschen umbringen war ja normalerweise schön und gut, doch diesmal empfand
er an seiner Tat keine Freude, vielmehr drängte sich ihm die nagende Erkenntnis
auf, dass er für diesen Mord ernsthafte Konsequenzen würde tragen
müssen.

In einer fließenden Kette aus Gedanken wanderten seine Gefühle von
Erschrockenheit über Zufriedenheit, Scham, schlechtes Gewissen und Verzweiflung
bis hin zu dem letztendlich grausamsten Gefühl, bei einer eigentlich simplen
Aufgabe vollkommen versagt zu haben. Die meisten dieser Gefühle hatte er
seit langer Zeit nicht mehr empfunden, und schon gar nicht aufgrund eines Menschen,
den er im Grunde genauso sehr wie jeden anderen, wenn nicht sogar noch mehr,
verachtete – zumindest versuchte er, sich das einzureden.
Während Kalessan jenen Gedanken nachhegte, scheute sich die Jungfrau nicht,
ihn mit den derbsten Ausdrücken zu bekreischen, die sie in ihrem längeren
Leben selbst als Jungfrau bereits aufschnappen konnte. Irgendwann zwischen den
„Mistkerlen“, „kaltblütigen Bastarden“ und „Turnbeutelvergessern“
wurde es auch dem erschrockenen Drachen zu bunt:

„Kannst du auch mal deine verdammte Klappe halten!?“, schrie er.
Die erzeugten Schallwellen alleine reichten bereits aus, um die Jungfrau vor
Schmerzen aufkreischen zu lassen. Fortan hing sie wimmernd an ihrem Pfahl. Eine
Beschimpfung fügte sie den ganzen „Kindermördern“ und
„seelenlosen Monstren“ jedoch noch leise hinzu:
„Ihr seid schlimmer als der schrecklichste Dämon der Hölle!“

*pling*
Versagen hatte Kalessan als Möglichkeit bei allen seinen Handlungen schon
immer ausgeschlossen. Und auch jetzt war nicht der Zeitpunkt gekommen, dies
wieder als Option hinzuzufügen.
Der Drache verwandelte sich, lief in seine Schatzkammer und durchwühlte
sämtliche Truhen und Ansammlungen von Schätzen, die er dort vorfand,
bis er alle Utensilien beisammen hatte, die er benötigen würde. Er
lief zurück in seine Wohnhöhle und zeichnete mit schwarzer Kreide
sorgfältig die erforderlichen Symbole auf eine Stelle des Bodens, die noch
nicht vollgeblutet oder -gepinkelt worden war. Danach stellte er die Kerzen
an den entsprechenden Stellen auf und zündete sie mit der Berührung
eines Fingers an. Schließlich wischte er, um den Vorbereitungen den letzten
Schliff zu geben, eine Ecke des großen Drudenfußes, den er gemalt
hatte, weg. Die Jungfrau beobachtete ihn hasserfüllt und fing wieder an
zu kreischen:

„Was wollt ihr da machen? Schwarze Magie? Eure Hexerei wird die Seele
dieses armen Jungen auch nicht wieder zurück bringen, nur seine seelenlose
Hülle, ihr grausames Stück Sch…“
„HALT den Mund und sei still. Ich kann seine Seele vielleicht nicht zurück
bringen, aber ich kenne jemanden, der das kann. Und ich warne dich, sag jetzt
ja kein Wort – und wenn, dann sprich nur in der Weise wie ich es tun werde,
denn er hat so seine Eigenheiten und ist momentan ziemlich schlecht gelaunt.
Es hat irgendwas mit der… ’neuen Rechtschreibung‘ oder so zu tun,
die ihm ziemlich zu schaffen macht. Wenn dir deine Seele also lieb ist, dann
wirst du ruhig bleiben, denn ich kann dir sonst auch nicht weiter helfen! Ganz
davon abgesehen, dass ich das überhaupt nicht will…“
In der Hoffnung, das Richtige zu tun, wendete sich Kalessan von der nun ruhigen
Jungfrau ab und begann mit der Beschwörung seines „alten Bekannten“.
Blitz, Donner, Nebel, ein großer, schwarzer Pudel und eine gewaltige lyrische
Veränderung kündeten die Ankunft des Herren der Unterwelt an…

MEFISTOFELES
tritt, indem der Nebel fällt, aus dem Pentagramm hervor:
Wozu der Lärm? Was steht dem Herrn zu Diensten?
KALESSAN:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst

Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;

Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
MEFISTOFELES:
Hört auf mit diesem Redeschwall
Und sagt mir lieber, alter Freund

Warum ihr mich mit einem mal
Zu euch bestellt in dieser Stund!
Ihr wisst wie ich beschäftigt bin
Drum nennt schnell den verqueren Sinn
Von diesem Anruf – sprechet rasch!

KALESSAN:
Eure Reime sind heut ziemlich lasch…
MEFISTOFELES:
Wer bist du, dass du mich hier tadelst?
KALESSAN:
Nur der, den du mit Freundschaft adelst.

Doch sag: Kennst du den Faust?
MEFISTOFELES:
                                            Den
Doktor? Diesen Wicht?
KALESSAN:
Oh, nein, den Faust, den mein‘ ich nicht!

Der Karlmax ist’s!
MEFISTOFELES:
                        Ach
der, was ist mit dem?
KALESSAN:
Fürwahr! er diente mir auf gar besondre Weise.

Und ist nun grad auf einer großen Reise.
Ihm treibt die Gärung in die Ferne.
Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,

Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
MEFISTOFELES:
Nun kommt zur Sache!
KALESSAN:
Sein Sohn ist’s, der mein Herz bewegt.

Verzweiflung die sich in mir regt,
Denn tot ist er, durch meine Hand
Starb er, sein Körper liegt dort noch
Doch in mir hab ich anerkannt
Dass sein Tod wie ein großes Loch

In meinem Herzen ist,
Das schnell zu füllen ich gedenke
Indem ich neues Leben schenke.
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Nekromantie!

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Denn Leben schenken kann ich nicht,
Nicht mal mehr diesem kleinen Wicht.

Drum eurer Hilfe ich bedarf
Wo ich als Freund stets redlich, brav
Die Seelen der durch mich Gefallnen
In euer Reich, die Hölle, schickte.
Eure Hilfe, die ich brauch

Um ihm zu geben Lebenshauch.
Lange Rede, kurzer Sinn
Woran ich interessiert nun bin
Ist, was ihr zu dem Vorschlag meint.
MEFISTOFELES:
Ich bin der Geist, der stets verneint!

Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,

Mein eigentliches Element.
Nun frag ich dich: was ist der Grund
Weswegen ich zu dieser Stund
Den Bengel soll ins Leben rufen
Ich Teufel mit den Pferdehufen?
Doch die Seelen vieler Toter

Gelangten nur durch euch
Mein lieber Roter
Schnell und häufig in mein Reich
Fürwahr!
Drum sei mein‘ einzige Bedingung

Mit der die Seel des Jungen ich errette:
Ein andre Seele, rein und jung
Die ich denn statt des Kindes gerne hätte.
KALESSAN auf die Jungfrau zeigend:
Nehmt diese dort!

JUNGFRAU:
                         Wen – mich?
KALESSAN:
Nun seid jetzt still!
Denn eure Seele ist’s, die dieser Teufel gerne will.

MEFISTOFELES:
Schön ist sie nicht, das ist wohl wahr
Doch innen ist sie rein und klar –
Ich nehme sie!
JUNGFRAU:

                    Er will mich!
KALESSAN:
Und der Junge soll leben!
JUNGFRAU:
Zu Hilf! Ich glaub ich muss mich übergeben!

MEFISTOFELES:
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.
JUNGFRAU:
So irgendjemand! Rette mich!
Ihr Götter! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!

Kalessan! Mir graut’s vor dir.
MEFISTOFELES:
Sie ist gerichtet!
KALESSAN:
                       Er gerettet!
MEFISTOFELES zur Jungfrau:

                                        Her zu mir!
Verschwindet mit der Jungfrau.
STIMME DER JUNGFRAU von innen, verhallend:
Kalessan! DU AR…!

Normalität
kehrte wieder ein. Kalessan sah sich wieder dazu in der Lage, in normalen Sätzen
zu denken. Sein Blick fiel auf Ninnel, der auf dem Boden lag, als wäre
nichts geschehen. Keine große Blutlache und kein abgetrennter Kopf sprachen
mehr für die begangene Untat.

Ninnel öffnete die Augen sah den Drachen an wie jemand, der gerade am Steuer
in Sekundenschlaf gefallen ist und sich jetzt wundert, dass sein Auto an einem
Baum klebt. Der Junge rappelte sich auf und sah sich um. Dann fragte er:
„Hast du die Jungfrau jetzt aufgefressen?“
„Ähm… ja!“, antwortete der Drache, verwirrt über die
Frage.
„Och menno, ich wollte doch zugucken!“

Entweder
war es von Mefistofeles beabsichtigt gewesen oder Kalessan hatte den menschlichen
Verdrängungsmechanismus katastrophal unterschätzt. Jedenfalls hatte
Ninnel keine Erinnerung mehr an seinen eigenen Tod, geschweige denn die Zeit
danach. Woran er allerdings noch perfekte Erinnerungen zu haben schien, waren
die Minuten kurz vor Kalessans kleinem Ausrutscher. Da der Drache laut eigenen
Aussagen die Jungfrau nach Ninnels Bitten doch noch verspeist hatte, war die
logische Schlussfolgerung des Jungen gewesen, dass er den Drachen doch nur intensiv
nerven müsse, um seinen eigenen Willen durchsetzen zu können.

Kalessan auf der anderen Seite fasste das Kind fortan nur noch mit Samthandschuhen
an und behandelte es wie ein gesprungenes, rohes Ei. Kurzum: jegliche Art der
Kontrolle, die Kalessan über Ninnel in den letzten Wochen gewonnen hatte,
wurde durch diesen verhängnisvollen Tag zerstört.
Ninnel konnte somit machen, was er wollte und Kalessans Nerven lagen blank.
Die Demütigungen, die ihm der Junge in den folgenden Tagen zufügte,
übertrafen beinahe das Gefühl des Versagens, dass der Drache nach
Ninnels Tod empfunden hatte. Doch es waren nun schon einige Wochen verstrichen
und ein Ende dieser schwarzen Tage war in Sicht.
Kalessan sah ein Licht am Ende des Tunnels.
Es entpuppte sich als ein Güterzug.

Da
Kalessan gerade auf dem Rücken lag, machte Ninnel sich einen Spaß
daraus, auf seinem Unterleib auf und ab zu hüpfen. Dies machte dem Drachen,
dem nicht einmal ernsthafte Schwerthiebe an dieser Stelle wirklich etwas anhaben
konnten, rein physisch nichts aus. Dennoch spürte er jeden Hüpfer,
als würde die Faust eines Gottes unablässig auf ihn einprügeln.
„Wenn du weitermachst, erzähl ich das deiner Mutter!“, sagte
er, doch es half nichts.
„Na und?“, antwortete das Kind und machte fröhlich weiter.

Kalessan richtete sich auf und bellte in bedrohlichem Tonfall:
„Wenn du nicht sofort aufhörst, werde ich dich fressen!“
Dies bewirkte, dass Ninnel zumindest ein paar Sekunden aufhörte, bis er
schließlich „Nein, wirst du nicht.“ sagte und einfach weitermachte.
Auf der einen Seite wirkte da die folgende Erscheinung fast erlösend, doch
Kalessan hatte sich bereits damit abgefunden, dass jeder Eindringling wirklich
nur im allerersten Moment eine willkommene Abwechslung darstellte.

„Ähm… Herr… Herr Kalessan?“, ertönte eine fiepsige
Stimme, die Ninnel dazu veranlasste, mit seinem Gehopse aufzuhören und
Kalessan, in die entsprechende Richtung zu sehen.
Ein kleines Wesen mit Augenbrauen, die Finanzminister aller Welten vor Neid
erblassen lassen würden, mit einer Nase, die vom Gurkentisch des nächst
besten Gemüsehändlers geklaut zu sein schien, mit Ohren, die es wahrscheinlich
zum Segelfliegen benutzte und Augen, die größer waren als die von
Spezies, die mehrere Kilometer tief unter der Erde leben, war zunächst
mal sein Gesicht eine absolute Katastrophe. Das Wesen war zudem vier Fuß
groß, hatte eine kränklich-braune Hautfarbe, eine ranzige Tunika
um den Leib gebunden und war so potthässlich, dass jedes Krebsgeschwür
demgegenüber einen Schönheitswettbewerb gewinnen könnte.

Kalessan kannte dieses Wesen nur zu gut – es handelte sich um Deppy, den
persönlichen Hauswürger von Smahug. Würger hießen diese
Wesen, weil dies die erste Reaktion sehr treffend umschrieb, die man beim Kontakt
mit ihnen hatte.
„Bitte, Deppy, sage mir nicht, dass ich das tun soll, was ich jetzt denke,
das könnte böse Folgen für dich haben!“, knurrte Kalessan
und unterdrückte den Würgereiz.

Ninnel schien angesichts dieser Erscheinung zwischen Interesse und Abscheu sehr
hin- und her gerissen… wenigstens hielt er die Klappe.
„Aber Meister hat mir gesagen tut, ich sollen euch sagen tun machen!“
– Hatte ich schon erwähnt, dass die Grammatik der Würger ebenfalls
zum Kotzen ist? – „Meister Smahug hat gesagt gemacht, dass ich machen
sollen tun machen muss, dass…“
„SAG es nicht, Deppy, ich warne dich!“
„Aber dann muss armes Deppy sich wieder selbst machen foltern tun, macht
armes Deppy keinen Spaß, nichts nein.“

„Das ist doch nichts im Gegensatz zu dem, was ich dir antun könnte…“,
drohte der Drache.
„Oh, ihr sein nie nicht nett zu nettes Deppy, Deppy machen tun tut nur
seine Aufgabe erfüllen machen. ‚Deppy machen gehen ganz brav zu Herr
Kalessan!‘, sagen Meister Smahug, ‚Und machen sagen Herr Kalessan,
dass sofort kommen er machen tun soll, jetzt gleich, weil wichtiges Treffen
sein tut auf dem Berg und…'“
Seinen Satz sollte er nie fertig sprechen, da er in einem Feuerstrahl aus Kalessans
Maul verglühte.

Eine mehrere Sekunden lange Stille entstand, bis sich Ninnel dazu durchringen
konnte, als erster wieder etwas zu sagen:
„Danke… aber musstest du es gleich umbringen?“
Der Drache schnaubte:
„Würger kann man nicht umbringen, das ist ja das Brutale an diesen
Mistkerlen. Der kehrt jetzt zu seinem Herrn zurück und nimmt erneut diese
widerwärtige Gestalt an. Dagegen bist selbst du eine Schönheit.“
„Und was wollte er von dir?“

„Nichts gutes…“
Smahug hatte also eine Versammlung einberufen.
Kalessan hasste diese Versammlungen! Die anderen neun Drachenarten verhielten
sich auf diesen Treffen immer wie die letzten Idioten, führten kindische
Debatten aus und verhielten sich generell nicht so, wie es wahre Drachen –
Drachen wie Kalessan – tun sollten. Lediglich Morkulebus war ähnlicher
Auffassung und daher noch das von Kalessan am meisten respektierte Mitglied,
wenn er sich auch aus der Sicht des roten Drachen zu passiv verhielt.
Schlimmer als das Verhalten der Drachen bei jenen Treffen waren jedoch die Anlässe,
aus denen Smahug, der Oberhaupt des Rates, sie einberief. Erst beim letzten
Mal hatte er den gesamten Rat beinahe in sein Verderben geführt, was zu
Kalessans Bekanntschaft mit Karlmax und letztendlich auch zur momentanen Misere
des roten Drachen geführt hatte.

Doch wenn man wie Kalessan ältestes Exemplar der eigenen Spezies war, konnte
man sich vor diesen Versammlungen leider nicht drücken, wollte man seine
Position und damit ein ernsthaftes Mitspracherecht bei den Entscheidungen über
die Geschicke der Welt, zu denen es auch ab und an kam, nicht riskieren.
Von ihm wurde nun erwartet, dass er sich sofort auf den Weg machte, um an der
Versammlung teilzunehmen. Ninnel konnte er natürlich nicht in seiner Höhle
lassen. Wer wusste schon, wie viele Ritter – möglichst noch Getreue
dieser ominösen Lady Syrop – sich noch auf den Weg zu Kalessans Höhle
machten und den Jungen dann mitnahmen.

Kalessans Optionen waren also nicht sehr zahlreich – auch wenn er es hasste,
den Jungen in die Geheimnisse des Drachenvolkes einzuweihen und, was noch schlimmer
war, ihn mit dem peinlichen Auftreten seiner Artgenossen konfrontieren zu müssen.
„Was wollte er denn nun genau?“, unterbrach Ninnel Kalessans Gedankengänge.
„Er hat eine Versammlung einberufen, zu der ich gehen muss. Sieht so aus,
als müsstest du mich begleiten…“
„Oh toll, dann darf ich endlich mit dir fliegen?“

So sehr Kalessan versucht hatte dies zu vermeiden, diesmal hieß die Antwort
wohl oder übel:
„Ja…“
Ninnel klatschte freudig erregt in die Hände und bedrängte den Drachen,
sogleich loszufliegen. Seufzend begann dieser mit den Vorbereitungen, nur damit
dieses elende Gequengel endlich aufhören würde.

Währenddessen
war ein junger Mann aus einer fremden Dimension damit beschäftigt, die
finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes zu finden, was sich als nicht besonders
einfach herausstellen sollte.

Viele Wochen lang zog er alleine durch die Dörfer und Wälder, doch
keiner schien den richtigen Weg zu wissen, und böse Menschen hatten die
Hinweisschilder umgedreht oder mit obszönen Zeichnungen unleserlich gemacht.
Die Wälder waren auch nicht ungefährlich, denn überall streunten
gefährliche, wilde Tiere umher. Der Mann aus der fremden Dimension sorgte
sich aber nicht darum, denn schließlich war er ja auserwählt, diese
Welt zu retten, deswegen konnte ihm natürlich nichts passieren. Eine große
Anzahl von Zufällen, namentlich zwei Wölfe, die sich im Streit um
ihn als Beute selbst zerfleischten, ein Bär, der kurz vor seinem Angriff
unglücklich stolperte und sich an einem Baum das Genick brach und ein Löwe,
der sich gerade auf den Reisenden stürzen wollte, dem dann aber einfiel,
dass es im Wald gar keine Löwen gab, worauf er in einer Rauchwolke verpuffte,
sorgten dann auch wunderbarerweise dafür, dass ihm tatsächlich nichts
passierte.

Einmal stieß der Reisende sogar auf eine Räuberbande, die ihn freundlich
umzingelte. Diese Räuber entpuppten sich jedoch als hinterhältige
Versicherungsvertreter, worauf selbst der Mann aus der fremden Dimension schleunigst
die Flucht ergriff.
Schließlich kam er in eine weitere kleine Stadt und traf dort endlich
auf einen Menschen, der den Weg in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes
zu kennen schien. Es handelte sich um einen seltsamen, kleinen Kerl in einer
knallbunten, ledrigen Rüstung, die aus so vielen Einzelteilen bestand,
dass die gesamte Konstruktion bei der geringsten Bewegung hin und her wackelte.
Am Bauch war offenbar eine Klappe, die man beliebig öffnen und schließen
konnte. Die Klinge seines Schwertes wies eine leichte Kurve auf und schien die
gesamte Biographie seines Besitzers zu erzählen, so vollgekritzelt mit
fremdartigen Schriftzeichen wie sie war.

„Und du weißt, wo es zu den finsteren Sümpfen des Schwarzen
Todes geht?“, fragte der Reisende den Krieger.
„Ja, Nagersacki wissen wo ihr finden finstere Sümpfe, hai!“
„Wo?“
„Was?“

„Häh?“
„Nein – hai!“, sagte der Krieger nochmals.
„Ach so… kannst du mich dort hinführen?“
„Warum sollte Nagersacki das tun? Wo ist die Ehre darin, fragt er den
Fremden.“

„Die Ehre?“, erkundigte sich der Fremde verwirrt.
„Nagersacki kämpfen nur für die Ehre. Wenn Ehre von Nagersacki
verletzt, Nagersacki bringen sich selbst um mit Kike-Riki!“
Nagersackie öffnete demonstrativ die Klappe an seiner Rüstung und
zeigte dem Fremden seinen nackten Bauch.
„Sag mal, was genau bist du eigentlich?“

"Nagersacki sein ehrenhafter Sauriam!", antwortete der Krieger mit
stolzgeschwellter Brust.
"Ich dachte, die Saurier wären alle ausgestorben!?“
"Wenn alle ausgestorben, warum stehen Nagersacki jetzt vor euch?"
„Verstehe… Meinst du, das es ehrenvoll wäre, wenn du mir bei der
Rettung der Welt hilfst?“
„Rettung der Welt? Ist große Ehre für Nagersacki! Es wird mir
Freude sein, den Fremden zu begleiten und ehrenhaft zu sterben, hai!“

„Wo?“
„Was?“
„Ach, vergiss es…“

Es
war ein wahrhaft trauriger Punkt erreicht, wenn Kalessan nun schon selbst beim
Fliegen keine Privatsphäre mehr hatte. Wenigstens hatte er Ninnel so stark
in alle möglichen warm haltenden Kleidungsstücke verschnürt,
dass dieser zwar noch atmen, aber keinen artikulierten Laut mehr hervorbringen
konnte. Dass er ihn fest an seine Brust gepresst hielt, tat sein übriges,
um ihn wenigstens den ganzen Flug über still und warm zu halten. Auf Kalessans
Rücken hätte sich der Junge bei den ganzen Stacheln und Zacken die
dort waren nur irgendwann selbst aufgespießt, auch wenn der Drache diesen
Gedanken mittlerweile mit ungeahnter Genugtuung verfolgte.

Zum Versammlungsort war es ein halber Tag Flugzeit von Kalessans Behausung aus.
Den Großteil der Zeit verbrachte der Drache damit, sich besonders blutige
Todesarten für Ninnel auszudenken, ansonsten fragte er sich, was Smahug
wohl zu der Einberufung eines Treffens hätte bewegen können.
Wahrscheinlich wollte er ihnen mal wieder einen neuen Ring in Drachengröße
präsentieren, den Generationen tüchtiger Zwerge in Jahrhunderte langer
Feinarbeit geschmiedet hatten. Oder ein wahnsinniger Mensch hatte mal wieder
eine todbringende Maschine erfunden, die die Sonne in die Luft sprengen würde,
wenn ihm nicht die Weltherrschaft zugesprochen würde.
Kalessan wusste nicht, was davon er mehr verachtete.

Er wusste ebenfalls nicht, dass er bei seinem Flug sehr aufmerksam beobachtet
wurde.
Als er am Versammlungsort ankam, einer konzentrischen Ansammlung von Felsplateaus
hoch in den Bergen, die vor langer Zeit genauso gut von Drachen- wie von Götter-
oder Zufallshand hätte geschaffen worden sein können, waren alle anderen
neun Mitglieder des Rates bereits anwesend.
Kalessan kreiste einmal über der Runde, die in den Farben Gold, Silber,
Bronze, Kupfer, Messing, Grün, Schwarz, Blau und Weiß leuchtete,
landete und mischte der Farbpalette einen aggressiven, roten Ton hinzu.
Die anderen Drachen waren sehr erstaunt, als sie ihn kommen sahen – normalerweise
erschien er immer erst ein oder zwei Tage später als angekündigt war.

„Oh, der werte Kalessan beehrt unsere illustre Runde ausnahmsweise einmal
pünktlich. Gute Vorsätze fürs neue Jahrhundert stehen aber erst
in ein paar Jahren an, mein bester!“, spöttelte Smahug, der Älteste
der Runde.
„Deine dämlichen Bemerkungen kannst du dir sonstwo hin stecken! Sag
mir lieber, was so überaus wichtig war, damit ich mich hierher quälen
musste, die letzten Male hat es nur Unglück gebracht.“, kam die gefauchte
Antwort von Kalessan, der gerade auf seinem Plateau Platz genommen hatte.

„Oh, ich sehe, bei deinen Manieren hat sich wenig geändert… und
wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir keinen Proviant zu den Treffen
mitnehmen sollst?“, merkte der goldene Drache an, als Kalessan das dicke
Ninnel-Bündel ablud, welches sich in der fremdartigen Runde neugierig umsah.
„Und dann auch noch ein Kind!“, fuhr er kopfschüttelnd fort,
„Dann friss es wenigstens gleich, damit wir das hinter uns haben!“
„So sehr es mich anwidert das zu sagen, aber dieses Kind wird nicht gefressen.
Ich habe schon zu viel deswegen durchgemacht.“
„Oh, Kalessan nimmt sich eines Menschenjungen an? Das kann einem ja fast
Angst machen!“, kam der gehässige Kommentar von Droca, dem Kupferdrachen.
Droca glich seinem benachbarten Bronzedrachen, Neidhöcker, wie ein Ei dem
anderen und war nur deswegen als er selbst zu identifizieren, weil er ein großes
Schild um den langen Hals trug, auf dem in großen, gut lesbaren Buchstaben
sein Name stand. Neidhöcker trug ein ähnliches Schild, nur dass auf
diesem sein eigener Name zu lesen war.

„Wenigstens brauche ich nicht mehrere Millennien, um mir eine Methode
auszudenken, mit der man mich einwandfrei identifizieren kann!“, entgegnete
der rote Drache, worauf Droca beschämt den Blick abwendete.
„Wer ist das überhaupt, dass du dich plötzlich mit Menschen
abgibst?“, kam eine weitere Frage von Adorelon, dem Silberdrachen.
„Dies ist Ninnel, Karlmax‘ Sohn!“, sagte Kalessan und versuchte,
wenigstens ein bisschen feierlich zu klingen, erntete aber lediglich verständnislose
Blicke.

„Wessen Sohn?“
„Ihr erinnert euch doch hoffentlich? Männlicher Mensch, viele Haare
im Gesicht, rettete alle unsere Existenzen…“
„Nein!“
„Nein!“
„Nein?“
„Nein!“

„Nein!“
„Thric!“
„Nein!“
„Nein!“
„Ja… Moment, nein, doch nicht!“
„Dann weiß ich nicht, was peinlicher ist – dass ich mir als
einziger in der Runde den Namen eines speziellen Menschen behalten konnte oder
dass ihr alle den Namen dieses Menschen vergessen konntet, der euch alles bewahrt
hat, was euch teuer war.“, brauste Kalessan auf.

„Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Woher der plötzliche Seitenwechsel,
Kalessan?“, fragte ihn Tjamat, der blaue Drache, der gerade mit einer
überdimensionierten Nagelfeile seine Krallen schönte.
„Oh, du meinst den Menschen in dieser Saurudalf-Angelegenheit, nicht wahr?“,
merkte Droca an, „Von dem habe ich noch öfters gehört, der ist
jetzt ein berühmter Theoretiker geworden oder so, hat großen Erfolg,
zieht durch die Lande, gibt Vorlesungen undsoweiter – in meinen Augen
ist unsere Schuld an diesen Menschen bezahlt.“

Die anderen Drachen stimmten dem kollektiv zu.
„Dann habe ich in den letzten Wochen anscheinend die Schuld von uns allen
zusammen bezahlt.“, antwortete Kalessan mit einem düsteren Blick
auf Ninnel, der gerade einen Stein über den Rand vom Plateau des roten
Drachen fallen ließ, um zu hören, wie tief der Abgrund darunter sei.
„Und jetzt erzählt ihr mir besser, warum ich mit diesem Balg überhaupt
herkommen musste – und lasst es bitte einen guten Grund sein, denn ich
bin zu fertig mit den Nerven, um irgendeine idiotische Begründung für
diese Zusammenkunft akzeptieren zu können!“

Kalessans letztes Fünkchen Hoffnung verschwand, als alle anderen Drachen
auf einmal reges Interesse an Steinen, Wolken und intensiver Krallenmaniküre
zeigten.
Smahug räusperte sich kurz und sagte dann:
„Nuntja, ähm, weißt du, der Grund für dieses Treffen ist…
wie soll ich es sagen, also es ist so… ähm… unsere liebe Schneeweißchen
hier…“, er deutete auf die weiße Drachin, die sich konsequent
weigerte, auch nur ein Wort in der allgemeinen Sprache zu sprechen, „…nun,
sie hat doch morgen ihren 2000. Geburtstag und da wollten wir eine kleine…
Feier veranstalten… hast du meinen Hauswürger etwa nicht aussprechen
lassen?“

Aus dem Tal dröhnte das donnernde Echo einer Steinlawine hinauf, die durch
Ninnels Steinwurf ausgelöst worden war.
Sie setzte sich in Kalessans Kopf in Form einer Lawine aus Wut fort.
Er brüllte laut auf, so laut, dass es selbst den restlichen Drachen in
den Ohren schmerzte, und schlug mit der geballten Faust auf den Felsboden seines

Plateaus.
Kalessans Schrei und das kleine Beben von seinem Schlag reichten aus, um Ninnel
über den Rand der Klippe, an der er sich immer noch aufhielt, auf einen
tiefen, tödlichen Fall zu schicken.

Kalessan und die anderen Drachen bemerkten es nicht.
Aufmerksame Augen beobachteten – und reagierten.
Der rote Drache tobte.
Die restlichen neun Mitglieder des Rates waren schon so einiges an Wutausbrüchen
gewohnt, die Kalessan angesichts ihm weniger wichtig erscheinenden Themen der
Versammlung losgelassen hatte, aber dies übertraf alles vorher dagewesene.
Wochenlang aufgestaute Wut entlud sich in unartikuliertem, lautem Gebrüll
und zahlreichen Gewalttaten gegenüber dem Felsen, auf dem der rote Drache
saß. Früher hatte er wenigstens noch den Anstand gehabt, ihnen einzeln
Beleidigungen zuzuschreien. Hätte ihn diesmal nicht ein letzter Funken
Vernunft davon abgehalten, er hätte sich wahrscheinlich auf Smahug gestürzt
und versucht, ihn umzubringen.

So dauerte es auch mehrere Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte und auf
dem großen Felsplateau nichts mehr außer der rauschende Wind zu
hören war.
Die restlichen Drachen des Rates kauerten sich alle eingeschüchert auf
ihren Plätzen zusammen und wagten es nicht, einen Laut zu machen, der die
Aufmerksamkeit Kalessans auf sie ziehen könnte.
Smahug erholte sich als erster:
„Bist du jetzt fertig, Kalessan? Gut, dein Mensch ist nämlich verschwunden.
Zufrieden?“

Kalessans wahnsinniger Blick klärte sich ein wenig auf, als er sich auf
seinem Plateau umsah und bemerkte, dass Ninnel tatsächlich verschwunden
war. Er warf einen Blick über die Felskante und suchte den Felsboden weit
unter sich nach dem Jungen ab, aber da war nichts. Der Drache wandte sich wieder
Smahug zu:
„Na und? Dann ist er endlich tot, und ich habe versagt. Es ist mir egal!
Und weißt du, was mir noch egal ist? Diese Versammlung hier! Wir sollten
die Welt regieren, und was machen wir stattdessen? Wir feiern Geburtstage, suchen
nach deinen Schätzen und legen uns mit mickrigen Magiern an. Wann haben
wir für diese Welt in letzter Zeit wirklich etwas wichtiges getan? Nichts!
Und dann sind wir sogar noch zu arrogant, um eine gute Tat anzuerkennen, die
mal jemand für uns tut. In dieser Hinsicht habe ich in den letzten Wochen
mehr im Namen dieses Rates getan als wir alle zusammen in den letzten acht Jahren.
Ich habe jemandem gezeigt, dass mir das, was er für mich getan hat, nicht
scheißegal war. Ja, es war ein Mensch. Ja, ich habe dabei gelitten, und
ja, ich habe versagt. Das beweist mir nur, wie inkompetent diese gesamte Versammlung
hier ist – darum sollte mir mein Versagen wohl doch nicht so egal sein…“

„Versagen wobei, Onkel Kalessan?“, ertönte eine leise Stimme
über dem Rauschen des Windes.
Kalessan dreht sich um.
„Oh, Scheiße!“
Ninnel war offensichtlich am Leben. Die Tatsache, dass er sich in den Klauen
eines fremden, roten Drachen befand, ließ jedoch nicht dafür sprechen,
dass es noch lange so bleiben würde.

Gemessen an Kalessan war dieser Drache gerade mal halb so groß, aber immer
noch groß genug, um bei den meisten Menschen ernsthafte Blasenschwäche
zu bewirken. Weitaus eindrucksvoller als seine Größe war jedoch sein
Blick. So ein Blick ließ nur auf einen Verstand hinter diesen Augen schließen,
der vollkommen wahnsinnig und zu allem bereit war, dabei noch einen extremen
Hang zum Sadismus hatte, jedoch alle Handlungen mit kalter Berechnung durchführen
konnte. Kalessan hatte in seinen besseren Tagen auch nicht anders ausgesehen…
Er erholte sich von daher von diesem Anblick daher als erster.
„Wer bist du?“, fragte er.

„Oh, wir sind wohl ein ganz stürmischer, nicht wahr?“, sagte
der Drache, der nach dessen Stimme zu urteilen unmissverständlich weiblich
war und fügte dem bedrohlichen Blick ein ähnlich schockierendes Lächeln
mit spöttischem Unterton hinzu, während er mit heftigen, schweren
Flügelschlägen versuchte, einigermaßen seine Höhe zu halten.
„Ist euch eigentlich klar, dass jedem Drachen, der unaufgefordert diese
Versammlung besucht, die Todesstrafe droht?“, schaltete sich nun Smahug
an die Drachin gewandt ein.

Diese riss ihren Blick von Kalessan los und funkelte den Vorstand des Rates
an:
„Natürlich ist mir das klar – nur frage ich mich, warum das
ganze? Damit wir anderen Drachen nicht herausbekommen, dass ihr nur Geburtstagspartys
feiert und Nichtigkeiten besprecht, anstatt die Welt zu beherrschen? Eine hervorragende
Begründung, wirklich!“
Die Stimme der Drachin troff vor Hohn und ließ Smahug sichtbar zusammenzucken.
Sie blickte sich in der Runde um:
„Oh, ihr seid wirklich ein wahrer Haufen von Herrschern: verfressen, fett,
herrschsüchtig, faul, arrogant und zu nichts nutze!“

Ihr Blick kam zu Kalessan zurück.
„Was ist mit dir? Du scheinst ähnlicher Meinung zu sein…“
„Gib mir den Jungen zurück und nenn mir deinen Namen!“, bellte
er.
Die Drachin sah Ninnel kurz an, der die gesamte Szenerie mit anscheinend sehr
großem Interesse verfolgt hatte und seinen Blick kontinuierlich von Drache
zu Drache wandern ließ, um auch ja nichts zu verpassen.

„Dir scheint dieser Junge ja sehr viel zu bedeuten… wenn das so ist,
dann komm doch und hol ihn dir!“, antwortete die rote Drachin lachend,
drehte ab und begann, auf der nächst besten Luftströmung davon zu
fliegen.
Smahug war außer sich:
„Das… das… das ist ein Skandal! Das ist mir vorher noch nie untergekommen.
Selbst ihr roten Drachen wisst, dass diese Versammlung für euch untersagt
ist!“
„Ich wusste doch, dass ich hier nie erwünscht war…“, antwortete
Kalessan abfällig.

„Du weißt genau, was ich damit gemeint habe. Dieser Verstoß
muss geahndet werden! Dem Gesetz muss Folge getragen werden! Sie wird die Konsequenzen
für diese Untat tragen müssen! Kalessan, da sie Mitglied deiner Rasse
ist, wirst du das Urteil an ihr vollstrecken!“
„Du meinst sie umbringen?“
„Ganz genau!“, Smahugs Stimme überschlug sich, „Ich befehle
es dir!“

Die folgende Stille hätte kein Friedhof besser hinzaubern können.
Als Kalessan das nächste Mal sprach, war seine Stimme leise und zischend:
„Du befiehlst mir gar nichts mehr, Smahug! Diese Zeiten sind vorbei. Ich
werde diese Drachin verfolgen und töten – weil sie mich herausgefordert
hat. Und wenn ich sie umbringe, dann wird das mein letzter Dienst für diesen
Rat gewesen sein.“
Er drehte sich um und breitete seine Flügel aus.

„Du kannst nicht austreten!“, brüllte Smahug ihn an.
„Dann halte mich auf!“, entgegnete der rote Drache, stieß
sich ab und flog der Drachin hinterher, die ihn so frech herausgefordert hatte.
Schneeweißchen murmelte etwas auf Draconisch, das ungefähr mit „Wirklich,
ein schöner Geburtstag!“ übersetzt werden konnte.

Mit
Nagersacki unterwegs zu sein, erwies sich für den Fremden aus einer anderen
Welt als an sich schon sehr schwere Aufgabe, da man sehr aufpassen musste, die
Ehre dieses Kriegers nicht zu verletzen. Einmal hatte sich ein Vogel direkt
über Nagersackis Kopf erleichtert, und nachdem der Krieger sich nicht dazu
in der Lage sah, das Tier deswegen zu einem fairen Kampf zu stellen, hatte der
Reisende seine Liebe Mühe, den Sauriam davon abzuhalten, sich selbst das
Schwert in seine Bauchklappe zu rammen.
Nichtsdestotrotz führte ihn Nagersacki in ein Gelände, das zumindest
schon mal die Bezeichnung „finsterer Sumpf“ verdient hatte.
„Sag mal, Nagersacki, warum heißen die finsteren Sümpfe des
Schwarzen Todes eigentlich so?“, erkundigte sich der Fremde.

„Nun, sie sehr finster seien…“
„Und weiter?“
„‚Schwarzer Tod‘, so wird genannt Drache, der lebt in Sumpf.
Seien kein netter Zeitgenosse, ha ha!“, erklärte Nagersacki.
„Oh, genau zu dem möchte ich aber.“
„Ihr wollen den Schwarzen Tod umbringen? Das werden ein wahrhaft guuuter
Kampf!“

„Ich will ihn eigentlich nicht umbringen, vielmehr… mit ihm reden!“
Der Fremde achtete darauf, nicht zu viele Details über seinen geheimen
Auftrag und vor allem über die Schriftrolle mit der wichtigen Nachricht
zu preiszugeben – man wusste nie, wem man trauen konnte, dazu hatte er
schon zu viele Bücher gelesen.
„Oh… darf Nagersacki ihn umbringen, nachdem ihr geredet habt?“,
fragte der Krieger hoffnungsvoll.
„Nein!“

„Oh bitte, nur ein bisschen!“
„Nein, und es bleibt dabei!“
Der Reisende hoffte stark, dass er den Sauriam nicht zu sehr in seiner Ehre
verletzt hatte, ansonsten würde dieser Streit noch viel heftigere Ausmaße
annehmen. Der Krieger beschränkte sich jedoch darauf, lautstark zu schmollen
und etwas in seiner eigenen, zwitschernden Sprache zu murmeln.
Die beiden setzten ihre Reise durch den immer finsterer und sumpfiger werdenden
finsteren Sumpf in verdrossenem Schweigen fort. Obwohl es eigentlich ein heller
Tag sein sollte, war der Himmel düster und dem Sumpf hing eine niederdrückende
Stimmung an. Dies lag vor allem an der Vegetation, beziehungsweise den sogenannten
Gruselbäumen. Diese haben eine sehr bizarre, gekrümmte Form mit vielen
gezackten Ästen und Auswüchsen, die jeden phantasievollen Verstand
geradezu dazu auffordern, sie für gefährliche Monster oder ausgestreckte
Klauen zu halten. Diese spezielle Baumart wächst besonders inmitten von
dunklen Wäldern und Sümpfen. Aufgrund ihrer die Atmosphäre steigernde
Wirkung wird sie gerne von bösen Herrschern und Kreaturen an diesen ihren
Heimstätten importiert und verdrängt schnell sämtliche Restvegetation,
die andere Farben außer grau, schwarz und braun aufweist. Alle anderen
Pflanzen bleiben seltsamerweise unangetastet…

Die unheimliche Wirkung des Sumpfes ließ auch das Gemüt des Reisenden
nicht ganz unangetastet. Er war sich zwar immer noch sicher, dass ihm als Weltenretter
nichts passieren konnte, dennoch hoffte er, dass er den Drachen bald finden
würde, damit er schnell aus diesem Sumpf heraus kommen und die Welt retten
könnte.
Nagersacki bedeutete ihm plötzlich, stehen zu bleiben und sah sich aufmerksam
um.
„Es sehr ruhig geworden ist. Kein gutes Zeichen sein.“
Dies wurde darin bestätigt, dass aus den Schatten der Gruselbäume
um ihnen herum auf einmal drei schreckliche Kreaturen auftauchten und sie umzingelten.
Es handelte sich um hoch gewachsene, bucklige Humanoide mit entstellten Gesichtern.
Sie hatten lange, rübenartige Nasen, zahnlose Höhlen als Münder,
das Kinn von jedem von ihnen war mehrere Zentimeter lang und sie waren überall
von pulsierenden Warzen entstellt. Sogar einige der Warzen hatten Warzen und
aus ihnen wuchsen lange, dünne Haare, die wahrscheinlich keine noch so
scharfe Gartenschere hätte durchschneiden können.

Nagersacki zögerte nicht lange, zog sein langes Schwert, stieß einen
hochfrequenten Kampfschrei aus und stürmte auf die nächst beste der
drei Kreaturen zu. Diese wich ihm mühelos aus und stellte ihm ein Bein.
Nagersacki hatte nicht genug Zeit, um zu reagieren, stolperte und legte sich
der Länge nach hin. Leider hielt er dabei sein Schwert so ungünstig,
dass er es sich dabei selbst in den Bauch rammte. Am Boden liegend sah er noch
einmal zu dem Reisenden hoch und sagte:
„Es ist vollbracht.“
Dann hauchte er seinen Lebensatem aus.

Was für ein oberpeinlicher Schlusssatz!, dachten sich alle Anwesenden.
Die drei Kreaturen schlossen nun ihren Kreis um den einsamen Reisenden, der
heftig zu zittern begann und sich nun doch schon seinem Ende nahe wähnte.
Eine letzte Frage wollte er ihnen jedoch noch stellen:
„Werwerwer seid ihr?“
Sie kreischten laut auf, was anscheinend ihre Art war, zu lachen. Danach antworteten
sie im Chor:
„Wir sind die drei schrecklichen Furien!“

„Ich bin Alexzstrzuszszuszia!“, schrie die eine, und der Reisende
begann noch heftiger zu zittern.
„Mein Name ist Chmlech’krach!clochchmchmrn!“, kreischte die
zweite Furie, und der Reisende begann qualvoll zu wimmern.
Dann stellte sich die dritte vor:
„Und ich heiße…“
Als die Furie ihren Namen genannt hatte, tönten die Schreie des Reisenden
laut und gellend, aber ungehört durch den finsteren Sumpf.

Die
Drachin zu verfolgen, war für Kalessan wahrlich kein Zuckerschlecken, da
diese sich als äußerst flink entpuppte und den größeren
Drachen in relativ kurzer Zeit abgehängt hatte.
Kalessan musste ab und an sogar auf die Hilfe von Menschen am Boden zurückgreifen:
„Ist hier ein roter Drache vorüber geflogen?“
Der Blick des von ihm angesprochenen Bauern machte ihm klar, dass es momentan
nur einen einzigen Drachen in seinem Universum gab. Seine Selbsterhaltungstriebe
brachten ihn jedoch zumindest so weit, den Arm unter wildem Zittern in die entsprechende
Richtung auszustrecken.

Kalessan flog los und brachte ihn nicht um – sogar dazu war er zu wütend.
Nach etlichen Stunden des Folgens von Spuren in der Luft und Hinweisen vom Boden
fand er die Höhle, die den Geruch jener fremden Drachin trug, am Rand einer
kleinen Gebirgskette. Er zwängte sich durch den für ihn viel zu kleinen
Durchgang und kam alsbald in den Hauptraum der Behausung der fremden Drachin.
Diese erwartete ihn bereits entspannt auf dem Boden liegend und zufrieden grinsend.
Über ihr baumelte ein überdimensionierter Vogelkäfig, in dem
Ninnel hockte und Kalessan ebenfalls fröhlich grinsend zuwinkte.
„Hast ja ziemlich lange gebraucht, mein Bester – mit diesem Quälgeist
hätte ich es wohl auch kaum länger ausgehalten…“, gurrte die
rote Drachin, stand auf und stupste den Käfig kurz an, worauf Ninnel wild
hin und hergeschleudert wurde.

„Hör mal zu: Ich bin momentan ziemlich stinkig – was stressige
Situationen betrifft, was andere Drachen betrifft und vor allem was
diesen Jungen dort betrifft. Der Rat hat mich beauftragt, dich wegen deines
Verstoßes gegen unser Gesetz zu töten, aber darauf habe ich jetzt
ehrlich gesagt keine Lust. Aus diesem Verein bin ich draußen. Wenn du
mir den Jungen also jetzt gibst und dich dann nie wieder blicken lässt,
bin ich bereit, dich am Leben zu lassen.“
Die gefährliche Ruhe von Kalessans Tonfall hätte selbst einige der
älteren Mitglieder im Drachenrat verschreckt, doch diese viel kleinere
Drachin lachte nur und legte den Kopf schief.

„Dir liegt wirklich viel an diesem kleinen Bengel, nicht wahr? Ich frage
mich, was an ihm so besonders ist…“
„Das geht dich nichts an! Und jetzt rück ihn raus, das ist meine
letzte Warnung!“, grollte Kalessan und nahm einen noch bedrohlicheren
Tonfall an, wenn das überhaupt möglich war.
„Tut mir leid, aber ich habe ihn nicht entführt, um ihn dir dann
einfach wieder zurückzugeben…“
„Und was willst du dann?“

Die Augen der Drachin verengten sich zu kleinen Schlitzen, und sie zischte:
„Ich will kämpfen!“
Kalessan lachte auf:
„Pah! Wie alt bist du eigentlich?“
„Man fragt eine Lady nicht nach ihrem Alter, aber schön: 500 Jahre…“

„Noch völlig grün hinter den Ohren… Du denkst doch nicht wirklich,
dass du auch nur den Hauch einer Chance hast!? Was könnte wohl der Grund
sein, dass du dein Leben so vorzeitig beenden willst?“
„Das wirst du noch früh genug sehen – na, was ist?“,
fauchte die Drachin und machte herausfordernde Gesten.
Kalessans Miene gefror.
„Du meinst es ernst, hm? … Nun gut, wie willst du es austragen?“

„Luftkampf. Kein Feuer, keine Magie – nur Geschick und Stärke!“
„Entweder du bist verdammt gut für dein Alter, oder du bist vollkommen
wahnsinnig.“, schnaubte Kalessan.
„Vielleicht bin ich ja beides – wollen wir jetzt endlich anfangen?“
Eine aufgeregte Kinderstimme mischte sich ein:

„Oh toll, ihr werdet gegeneinander kämpfen! Darf ich zusehen? Bittebittebitte!“
„Halt die Klappe!“, brüllten Kalessan und die Drachin gleichzeitig,
worauf Ninnel Ruhe gab.

Wenige
Minuten später umkreisten sich die beiden Drachen über den Bergen.
Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages zugezogen, und die Wolken hingen dicht,
grau und tief über der Landschaft.

„Ich gebe zu, ich bin ein wenig beeindruckt von deinem Mut… oder von
deiner Dummheit.“, sagte Kalessan.
„Oh, du wirst noch viel beeindruckter sein, glaube mir!“
„Und du willst das wirklich?“, fragte Kalessan die fremde Drachin,
immer noch zweifelnd.
Diese ignorierte ihn.
„Bist du bereit?“, fragte sie.

„Bereit, wenn du es bist.“, antwortete Kalessan, aber noch während
er sprach, hatte sich die Drachin aufgeschwungen und war in den Wolken verschwunden.
Also wird gespielt…, dachte sich der ältere Drache und folgte
ihr in die dichte Wolkendecke.
Kalessan hatte in seinem Leben schon viele Luftkämpfe mit anderen Drachen
ausgetragen und wusste nur zu gut, dass das Antreten gegen einen älteren,
stärkeren und erfahreneren Gegner ein böses Ende haben konnte. Wenn
man die Wettersituation als Vorteil im Kampf richtig ausnutzte, konnte man auch
einen stärkeren Gegner leicht bezwingen. Doch auch Kalessan wusste um den
Vorteil von Wolken und Überraschungsangriffen. Leider hatte es nun schon
seit geraumer Zeit niemand mehr gewagt, ihn herauszufordern, weswegen er ein
wenig aus der Übung war und den ersten Angriff zu spät kommen sah.

Er drehte schnell ab, und die junge Drachin stürzte an ihm vorbei, jedoch
konnte sie ihm ihre Klauen einmal über die Seite ziehen und ließ
ein paar nicht sehr tiefe, aber dennoch spürbare Striemen zurück.
Danach war sie wieder außer Sichtweite.
Oh, diese Drachin hat ja richtig Schneid!, dachte sich Kalessan und
flog aufwärts, um in höheren Luftschichten aus der Wolkendecke auszubrechen.
So langsam regte sich in ihm wieder die alte Kampfeslust, und er begann, seine
alten Taktiken anzuwenden. Über den Wolken kreiste er und behielt die Schatten
unter sich wachsam nach der geringsten Bewegung im Auge, ohne dabei die restliche
Umgebung außer Acht zu lassen.

Da! Unten wirbelten die Wolken leicht auseinander, als ob sich etwas großes
darin bewegen würde. Er legte die Flügel an und begann einen lautlosen
Sturzflug auf das Bewegungsmuster zu, durchbrach die Wolkendecke und konnte
die junge Drachin sehen, wie sie, ihn nicht bemerkend, aufmerksam die Wolken
unter sich absuchte.
Schade, es war sehr kurz mit dir, aber angenehm!, dachte sich Kalessan
und streckte seine Klauen aus, um die kleinere Drachin in der Luft zu zerreißen.
Den Bruchteil einer Sekunde bevor er auf sie auftraf, drehte sie sich auf einmal
blitzartig um ihre Achse und wirbelte zur Seite, sodass Kalessan sie knapp verfehlte.
Dabei gelang es ihr, in die empfindliche, bereits von Narben durchsäte
Flügelmembran des älteren Drachen zu beißen. Dadurch war sie
jedoch kurz in Reichweite von Kalessan, der jetzt seinerseits die Gelegenheit
nutzte, sich geschickt in der Luft drehte und ihr eine Klaue in den Hals rammte.
Die Drachin löste sich von ihm und brüllte auf, jedoch klang es mehr
wie ein lustvolles Stöhnen als ein Schmerzensschrei. Danach verschwand
sie wieder in den Wolken.

Kalessan verfluchte sich selbst, dass er auf diese Falle hereingefallen war.
Er hatte diese junge Drachin anscheinend gewaltig unterschätzt. Aber man
wird nicht so alt, wenn man nicht aus seinen Fehlern lernt…
Er durchbrach erneut die Wolkendecke auf der oberen Seite. In einiger Entfernung
flog seine Gegnerin – auch sie hatte ihn entdeckt und flog direkt auf
ihn zu. Ein paar Hundert Meter bevor sie aufeinander prallten, tauchte sie in
die Wolken ab. Doch diesen Trick kannte Kalessan. Als er hinter sich das Rauschen
hörte, drehte er sich blitzartig um und entblößte seine Fänge.
Die Drachin, die von unten aus den Wolken hervor kam, einen halben Looping flog,
um sich dann von oben überraschend auf ihren Gegner stürzen zu können,
hatte nicht erwartet, direkt in die Klauen ihres Feindes zu fallen. Die beiden
Kämpfer verkeilten sich kurz ineinander und versuchten, während des
freien Falls dem Gegner die Flügel so zu beschädigen, dass dieser
nicht mehr fliegen und am Boden zerschellen würde. Beide zogen sich schwere
Wunden zu, bevor sie sich voneinander trennten und wieder in den Wolken verschwanden.

Kalessan hatte mehrere tiefe Kratzer an seiner Unterseite und einige Bisswunden
am Hals davongetragen, seiner Gegnerin aber dafür ein paar Risse in der
linken Flügelmembran und eine tiefe Verletzung am Hinterbein beigebracht.
Doch für ihr Alter war dieses junge Ding erstaunlich erfahren im Kampf.
Kalessan hatte schon wesentlich älteren Drachen gegenüber gestanden,
die sich ungeschickter angestellt hatten und nicht so lange durchhielten wie
diese Drachin. Wirklich schade, dass er sie würde umbringen müssen…
Der Kampf tobte noch über eine Stunde lang, und Kalessan musste feststellen,
dass er zwar wesentlich stärker als sein junges Gegenüber war, jedoch
bei weitem nicht mehr so agil und schnell. Sein hohes Alter mochte ihm zwar
mehr Erfahrung und ausgeklügeltere Kampftaktiken beigebracht haben, doch
diese waren im Laufe der Jahre so weit eingestaubt, dass er in der jungen Drachin
einen nahezu ebenbürtigen Gegner hatte.

Die Schlacht hätte noch viel länger dauern können, doch Kalessan
deutete der Drachin bei einer günstigen Gelegenheit eine kurze Auszeit
an. Kurze Zeit später umkreisten sich die beiden wieder unter der Wolkendecke.
„Was ist, machst du etwa schon schlapp?“, bellte seine junge Gegnerin
mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht, obwohl sie aus mehreren Wunden heftig
blutete.
„Ich gebe zu, ich bin wahrlich beeindruckt von deinen Fähigkeiten.
So einen guten Kampf hatte ich schon lange nicht mehr. Bevor wir weitermachen
möchte ich zumindest noch deinen Namen erfahren!“

„Lady Syrop, zu euren Diensten!“, sprach die Drachin und verneigte
sich spöttisch in der Luft vor ihrem Gegner.
„Syrop? DU hast all diese Drachentöter zu mir geschickt?“
Die junge Drachin lachte lauthals über die Kalessan offen ins Gesicht geschriebene
Verblüffung:
„Ja, das war ich. Da du noch am Leben bist, scheinen sie ihre Aufgabe
nicht sehr gut erfüllt zu haben…“

„Aber wozu? Ich habe dich vorher noch nie gesehen. Was habe ich dir getan?“
„Nun, gar nichts!“
„Und was willst du dann?“, fragte der ältere Drache, dessen
Verwunderung immer größer wurde.
„Was ich will? Aufmerksamkeit! Und die bekäme ich wohl kaum, wenn
ich junges Ding mal eben bei dir angeklopft hätte, nicht wahr?“

„Aufmerksamkeit? Das ist alles? Warum das?“
„Wenn du das bis jetzt noch nicht herausgefunden hast, dann können
wir diese Angelegenheit genauso gut beilegen, mein Liebster…“, antwortete
Syrop spöttisch.
Doch Kalessan hatte schon begriffen. Er war überrascht über die Vorgehensweise
der jungen Drachin, und er war noch viel mehr überrascht über den
Erfolg, den sie damit hatte. Doch es passte alles zusammen. Kalessan konnte
nicht umhin, sich selbst den Erfolg ihres Anliegens einzugestehen – nun
galt es, entsprechend zu reagieren.

„Dir ist klar, was du da willst?“, sagte er.
„Ja!“
„Dir ist außerdem klar, dass ich das schon seit einer Ewigkeit nicht
mehr getan habe?“
„Allerdings!“
„Dann lass es uns beenden!“

Syrop nickte zufrieden. Sie beide begannen, sich immer weiter in die Höhe
zu schrauben und dabei stetig einander zu umkreisen. Höher und höher
flogen sie, durch die Wolken hindurch und noch viel weiter, bis in obere Schichten,
wo die Luft schon sehr dünn war, sich dabei immer umkreisend, wie in einem
grotesken Tanz der Sonne entgegen.
Dort oben trennten sie sich dann voneinander und flogen auseinander, um sich
dann in angemessenem Abstand voneinander gegenüber zu positionieren und
ein paar Sekunden mit heftigen Flügelschlägen in der dünnen Luft
zu verharren.
„Bist du bereit dafür?“, fragte Kalessan die jüngere Drachin,
die vor Erschöpfung zitternd sich mühsam ihm gegenüber in der
Luft hielt, aber immer noch die Kraft hatte, keck zu antworten:

„Bist du es denn?“
Kalessan brüllte auf und warf sich vorwärts. Mit kräftigen Flügelschlägen
steuerte er auf sein Gegenüber zu. Syrop tat es ihm gleich, schrie auf
und brauste ebenfalls auf den viel größeren roten Drachen hin.
Die beiden näherten sich einander immer schneller und schneller. Keiner
drosselte seine Geschwindigkeit oder drehte gar ab, als sie auf Konfrontationskurs
gingen. Lediglich im letzten Moment glaubte Kalessan, eine Spur von Zweifel
in den Augen Syrops zu sehen, doch da war es bereits zu spät.

Die beiden Kolosse prallten in der Luft wuchtig aufeinander und beschrieben
eine bizarre Pirouette, als sie sich festhielten und umeinander drehten. Blitzartig
umwickelte der viel größere Kalessan Syrops Hals und Schwanz mit
den seinen, krallte sich an ihr fest, hielt ihre Flügel mit seinen Klauen
an den Seiten, sodass sie völlig umklammert war und legte seine eigenen
Schwingen an. In einer tödlichen Umarmung stürzten die beiden Drachen
sich immer noch drehend kopfüber den Wolken entgegen. Die gefangene Syrop
kreischte, riss Kalessans Unterleib mit ihren Klauen auf und biss sich in seinem
Hals fest, doch dieser hielt sie in seiner erbarmungslosen Umklammerung fest
und schien den Schmerz gar nicht zu spüren.
Immer und immer schneller werdend rauschten sie der Wolkendecke und damit dem
tödlichen Boden entgegen, unzertrennlich verbunden.
Und dann machte Kalessan etwas sehr unartiges…

Syrop brüllte auf.
In der Ekstase ihrer Vereinigung und ihres freien Falls stürzten die beiden
Drachen durch die Wolkendecke, immer weiter an Geschwindigkeit gewinnend.
Letztendlich durchbrachen sie auch die Wolken, und der Boden kam wie eine gigantische,
tödliche Fliegenklatsche rasend schnell auf sie zu.
Man könnte meinen, dass die beiden ewig in dieser Verbindung bis zu ihrem
Tod zu Boden hätten stürzen können, doch wenige Hundert Meter
über dem Wald, in den sie hineinzustürzen drohten, trennte sich Kalessan
von Syrop und breitete seine Schwingen weit aus, um den Sturzflug anzufangen.
Selbst unter Einsatz seiner Magie riss die ungeheure Wucht des plötzlichen
Luftwiderstandes ihm beinahe seine Flügel aus, und fast erschien es, dass
er doch noch als ein sehr großer, roter Fleck am Boden enden würde.
Doch kurz vor dem Aufprall bekam er noch seinen nötigen Aufwind und schwebte
in einer weiten Kurve wieder nach oben, wobei er einige Baumkronen mit seinen
Hinterklauen streifte. Danach vollzog er eine elegante Wendung in der Luft und
flog in Richtung Syrop.

Diese konnte den Sturzflug nicht so gut abfangen. Auch sie breitete ihre Schwingen
aus, ging in einen steilen Sinkflug und hoffte, kurz vor dem Aufprall abdrehen
zu können, doch der wenige Spielraum, den sie hatte, reichte nicht aus.
Die Drachin rauschte in die Baumkronen hinein, entwurzelte viele Bäume
und pflügte eine große Schneise in den Wald, als sie auf dem Boden
auftraf und mehrere Dutzend Meter weit rutschte, bevor sie zum Stillstand kam.
Kalessan zerdrückte noch viel mehr Bäume, als er neben der übel
zugerichteten Drachin landete, die sich beim Aufprall wahrscheinlich sämtliche
Knochen im Leib gebrochen hatte, aber immer noch am Leben war.
Die Bewunderung des älteren Drachen für sie kannte keine Grenzen,
als Syrop noch die Kraft fand, zu ihm aufzusehen und mit einem matten Lächeln
hervorzubringen:

„Das müssen wir unbedingt noch einmal machen!“

Wenige
Tage später…
Die Tournee war erfolgreich gewesen. Sämtliche von Karlmax Lesungen waren
ausverkauft, das Publikum jedes Mal sehr aufmerksam, gebannt von seinen Ausführungen
und der Applaus zum Ende jedes Auftritts immer wieder ohrenbetäubend. Karlmax
hatte zwar bei keiner der von ihm besuchten Städte das Gefühl, dass
die dortigen Menschen wirklich den Mut oder die Lust hatten, die von ihm vorgestellten
Thesen auch tatsächlich umzusetzen, aber das war er mittlerweile gewohnt.
Immerhin ließ sich damit ganz gut Geld verdienen.

Rita war ihm während seiner Tour wie immer eine großartige Unterstützung
gewesen, hatte Karlmax‘ ideologische Gegner immer wieder höflich
zurecht gewiesen (wobei „Mit verknoteten Armen und Beinen in einer dunklen
Gasse landen“ noch als höflich gewertet werden durfte) und ihm das
stressige Leben einer solchen Reise wesentlich einfacher gemacht.
Karlmax bereute es, die gute Beziehung, die sie in den letzten Wochen geführt
hatten, wieder ein wenig trüben zu müssen, als sie sich erneut der
Höhle von Kalessan näherten.

„Du Rita, ich fürchte, da gibt es etwas, was ich dir über diesen
Kalessan, der Ninnel betreut hat, erzählen muss…“, sprach er das
leidige Thema an.
„Er wird unseren Jungen doch auch gut behandelt haben!?“
„Ja, das hoffe ich… Nun, ich hätte es dir wahrscheinlich schon
früher sagen sollen, aber Kalessan ist nicht wirklich ein Mensch, sondern…
na ja, ein Drache. Bitte verzeih mir, dass ich dir das nicht schon früher
anvertraut habe, aber du hättest ihm unseren Jungen wohl kaum anvertraut,
wenn du das gewusst hättest…“

Schuldbewusst schaute Karlmax auf den Boden, während er auf Ritas Reaktion
wartete, darauf hoffend, nicht selbst mit verknoteten Armen und Beinen im Wald
zu landen.
„Ein Drache? Aber, das ist ja… perfekt!“, rief Rita aus, „Warum
hast du mir das nie erzählt? Einen besseren Beschützer für unser
Ninnilein als einen Drachen kann ich mir doch gar nicht vorstellen. Und wenn
er dann noch mit dir befreundet ist, wo liegt das Problem?“
„Nun, darin liegt das Problem! Ich war mir gar nicht mal sicher,
ob er Freunds genug war, diese Aufgabe überhaupt anzunehmen und durchzuführen…“,
antwortete Karlmax, der sich von Ritas überraschender Reaktion schnell
erholt hatte, „Ehrlich gesagt hoffe ich selbst, dass er unseren Jungen
gut behandelt hat.“

„Na und wenn nicht, dann bekommt er es eben mit mir zu tun, nicht wahr,
Schatz?“
Karlmax lächelte matt:
„Ja, Liebling…“
Zusammen betraten sie die Höhle.
Kalessan erwartete sie bereits, in der Mitte seiner Hauptwohnhöhle liegend.
Zu Karlmax‘ Erleichterung hatte er den Raum einer gründlichen Reinigung
unterzogen, denn sämtliche der stinkenden, gelben Pfützen waren mittlerweile
verschwunden. Der Raum sah recht ordentlich aus und roch auch so.

„Willkommen zurück!“, begrüßte sie der Drache mit
gemäßigter Stimme.
Rita machte große Augen.
„Ihr seid doch dieser Drache, der vor neun Jahren Rudis Stall zerstört
hat, oder irre ich mich?“
„Nein, keineswegs. Zu dieser Gelegenheit lernte ich auch… euren werten
Mann dort kennen.“

Kalessan lächelte Karlmax auf eine Weise an, die ihm überhaupt nicht
gefiel…
„Warum hast du mir eigentlich nie davon erzählt, dass du mit ihm
befreundet bist?“
Bei diesem Satz leuchteten Kalessans Augen gefährlich auf.
Karlmax wendete sich nur mühsam vom Anblick des Drachen ab und an seine
Frau:

„Hättest du mir geglaubt?“
„Ähm… nein, du hast Recht, Schatz.“, antwortete Rita lächelnd
und wendete sich ihrerseits wieder an den Drachen:
„Na gut, wo ist unser kleiner Junge denn?“
Kalessan begann auf eine Weise zu grinsen, die Karlmax kalte Schauer über
den Rücken laufen ließ. Dann deutete er nach oben.

Ninnel winkte ihnen aus einem an der Decke baumelnden, großen Vogelkäfig
fröhlich grinsend zu.
Ritas Lächeln gefror auf ihrem Gesicht.
„Warum hängt mein Sohn in einem Käfig von der Decke?“,
fragte sie tonlos.
„Oh, versteht mich nicht falsch, es ist nur zu seinem eigenen Schutz.
Ich mag vielleicht versprochen haben, dass ich eurem Sohn nichts antue, für
die liebe Syrop hier gilt das jedoch leider nicht…“, sagte Kalessan,
worauf sich hinter ihm etwas regte und der kleinere, aber immer noch imposante
Kopf der Drachin hinter seinem Rücken erschien.

„Holen sie diesen kleinen Quälgeist endlich ab?“, fragte sie,
während Kalessan den Käfig von seiner Kette löste, ihn auf den
Boden stellte und die Klappe öffnete.
Ninnel rannte sofort freudig kreischend auf seine Mutter zu und umarmte sie
stürmisch.
Karlmax sah sich immer noch sehr beansprucht darin, die gesamte Szenerie zu
begreifen.
Kalessan nahm ihm diese Bürde ab:

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir danken oder dich verfluchen soll.
Einerseits hat dieser Winzling dort mir einige der stressigsten und peinlichsten
Wochen meines Lebens beschert, auf der anderen Seite hätte ich ohne ihn
diese nette, junge Dame hier“, er deutete kurz auf Syrop, „wahrscheinlich
nicht näher kennen gelernt. Ihm selbst geht es anscheinend recht gut, und
es ist ihm in meiner Gegenwart nichts schlimmes von… permanenter Dauer geschehen.
Nicht wahr, Ninnel?“
„Onkel Kalessan hat mich von einer Klippe geschubst, aber Tante Syrop
da drüben hat mich gerettet!“, rief der Junge fröhlich aus.
Rita und Karlmax starrten die beiden Drachen sprachlos an.
Kalessan grinste erneut.

„Ja, er hatte hier schon viel Spaß die letzten paar Wochen. Ich
bin mir sicher, dass er euch das noch alles erzählen wird. Euch beiden
schlage ich jetzt vor, dass ihr meine Höhle und meinen Wald sofort verlasst
und euch hier nicht mehr blicken lasst. Nächstes Mal bin ich für den
Jungen nämlich nicht mehr Beschützer, sondern Raubtier – alles
klar?“
Karlmax nickte – er hatte verstanden.

„Lass uns gehen, Rita!“, sagte er und entfernte sich langsam von
den beiden Drachen, während er seine Frau und seinen Sohn mit sich zog.
Ninnel winkte „Onkel Kalessan“ noch ein letztes Mal zu, dann verschwanden
die drei aus der Höhle.
Auf dem Heimweg erzählte Ninnel seinen geschockten Eltern alles über
weggezauberte Ritter, gefressene Jungfrauen, Kalessans Wäschen und viele,
bunte Drachen.

In der Höhle sahen sich die beiden Drachen an und atmeten erleichtert auf.
„Bin ich froh, dass dieser kleine Mistkerl endlich weg ist!“, sagte
Syrop, und lehnte sich an Kalessan an.
Der alte Drache seufzte:
„Glaube mir, du bist nicht halb so froh wie ich… nicht halb so froh…“
„War das denn wirklich nötig? Hättest du die drei nicht einfach
umbringen und die Sache vergessen können?“

Kalessan schüttelte den Kopf.
„Nein, dann hätte ich bei dieser Aufgabe doch noch im letzten Moment
versagt. Manchmal muss man halt etwas tun, was einem überhaupt nicht gefällt…
und wie gesagt, ohne diesen Quälgeist hätte ich dich wohl nicht kennen
gelernt, insofern hatte diese Sache ja doch etwas gutes.“
„Och, ich hätte mir schon etwas einfallen lassen, um deine Aufmerksamkeit
zu gewinnen, mein Lieber.“, schnurrte die junge Drachin.

„Was hättest du eigentlich getan, wenn einer dieser Drachentöter
es geschafft hätte, mich umzubringen?“
„Dann wärst du wohl kaum der würdige Partner für mich gewesen,
den ich mir gewünscht hatte.“
„Hm… Meinst du wirklich, dass Sex die Grundlage für eine gute Beziehung
sein kann?“, fragte Kalessan seine neue Partnerin.

„Wir sind Drachen, natürlich geht das… wie war es denn
bei deiner letzten Gefährtin?“
„Ich… weiß es nicht mehr… es ist schon so lange her… zu lange!“
„Und genau deswegen bin ich jetzt da.“, gurrte Syrop.
Kalessan lächelte.

„Aber mal was anderes: Wie sieht es eigentlich jetzt mit dir und dem Rat
aus?“, fragte sie.
„Erzähl mir nicht, dass du nur aus politischen Gründen eine
Beziehung mit mir eingegangen bist!“
„Vielleicht?“
Syrop grinste geheimnisvoll.
„Nun, ich habe gesagt, dass, wenn ich dich umbringe, dies mein letzter
Dienst für den Rat gewesen sein wird. Da ich dich nicht umgebracht habe
und dies in nächster Zeit auch nicht tun werde, heißt das wohl, dass
ich auch noch nicht ausgestiegen bin… Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was
die sagen, wenn wir beide beim nächsten Treffen dort zusammen aufkreuzen.“,
sagte Kalessan.

„Und du meinst nicht, dass die etwas dagegen haben werden?“
„Natürlich! Sie werden sich mit allen Mitteln dagegen sträuben
– aber wer wird sich schon mit uns beiden anlegen wollen?“
Die beiden Drachen lachten lauthals auf, und irgendwo im Wald wunderte sich
ein einsamer Einsiedler, weil er diesen Laut noch nie aus der Höhle seines
Herren gehört hatte.
„Dabei fällt mir ein… ich habe ganz vergessen, Morki auf diesen
Dimensionsreisenden anzusprechen, den ich zu ihm geschickt habe. Was wohl aus
dem geworden ist?“

Dem
Fremden war es tatsächlich gelungen, sich aus den Klauen der schrecklichen
Furien zu befreien. Als er den Namen der letzten Furie vernommen hatte, musste
er vor Lachen laut aufschreien, denn einer der Freunde seiner Heimatwelt hatte
den gleichen, dämlichen Namen, was er persönlich recht lächerlich
fand. Dies war den Furien so peinlich gewesen, dass diese sich beschämt
ins Unterholz verkrochen.
So konnte der Reisende weiter ziehen, immer tiefer in die finsteren Sümpfe
des Schwarzen Todes hinein.
Hier, im Herzen des Sumpfes, war es noch dunkler als in seinen Ausläufern,
und der Fremde musste trotz seiner bereits an die Dunkelheit gewöhnten
Sicht sehr aufpassen, wohin er trat.
Es dauerte nicht mehr lange, bis er an seinem Zielort ankam. Die Bäume
lichteten sich zu einer großen Lichtung, die einen einigermaßen
festen Boden zu haben schien.

In ihrer Mitte lag der schwarze Drache. Er war kleiner als der große rote,
den der Fremde vorher getroffen hatte, aber immer noch unheimlich imposant.
Sein Blick war weniger aggressiv als der des roten Drachen, hatte aber eine
ebenso beunruhigende Intensität, die zusammen mit seinem düsteren
Aussehen und der finsteren Umgebung sehr beängstigend wirkte.
Als er sprach, dröhnte seine tiefe Stimme über die Lichtung hinweg:
„Da kommt man gerade nach Hause und bekommt schon Besuch. Was willst du,
Winzling?“
„Bist du Morkulebus, der Herr dieses Sumpfes?“

„Der bin ich – es gibt nicht gerade viele Drachen in diesem Sumpf,
Winzling!“
„Cool! Der große, rote Drache hat mir diese Botschaft gegeben, die
ich dir übergeben soll. Ich muss diese Welt retten, musst du wissen…“
Der schwarze Drache schien interessiert:
„Kalessan hat dir diese Nachricht mitgegeben? Zeig her!“
Der Reisende händigte dem Drachen die Botschaft aus und war dann sehr darauf
bedacht, wieder einen möglichst respektvollen Abstand zu ihm zu bekommen.

Morkulebus brach das Siegel der Botschaft und entrollte sie, so gut es mit seinen
großen Klauen eben ging. Dann überflog er den Inhalt der Schriftrolle
kurz und schnaubte.
„Was steht drin?“, fragte der Reisende gespannt.
Morkulebus funkelte ihn ausdruckslos an, grinste dann und winkte ihn zu sich,
um ihm die Botschaft zu geben.
Der Fremde war bis zum Äußersten gespannt. Endlich würde er
erfahren, was der große, rote Drache seinem schwarzen Kollegen mitgeteilt
hatte. Endlich würde er seine Bestimmung in dieser Welt mitgeteilt bekommen.

Er nahm die Schriftrolle von dem schwarzen Drachen entgegen und las sie sich
durch.
Die Mitteilung war recht kurz.
Sie lautete:

Von
Kalessan an Morki:
Guten Appetit!

Manchmal
sollte man nicht wirklich jeden Scheiß annehmen, der einem aufgetragen
wird…

Written by Der Doktor http://www.die-subkultur.net

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