Drachen und Jungfrauen

Taucht ein Drache als Symbol des Unterdrückers oder in der gotteslästerlichen Form des Teufels in den Geschichten und Überlieferungen auf, so wird er seit jeher gern mit Jungfrauen beschwichtigt. Diese per Definition reinen, meist christlichen jungen Frauen, die oft auf dubiose Weise auserwählt werden, retten ihr Dorf vor dem Ungetüm, indem sie sich selbst und ihre Reinheit opfern. Aber warum müssen es gerade Jungfrauen sein? 
Der Begriff Jungfrau entspringt dem Mittelhochdeutschen „Juncfrouwe“ des 11. Jahrhunderts und galt damals als Anrede für eine „junge Herrin“, einer Edeldame. Erst später, aus dem Marienkult entstammend, wurde das Wort in seiner Bedeutung auf die sexuelle Unberührtheit eingeschränkt und derartig modifiziert bis heute beibehalten.
In vielen Religionen spielt die Jungfräulichkeit in dieser Bedeutung seit jeher eine wichtige Rolle. So sind zum Beispiel die griechischen Göttinnen Athene, Artemis und Hestia Jungfrauen, der römische Gott Mithras wurde laut einer persischen Überlieferung von einer Jungfrau empfangen und auch im Christentum wurde Jesus von Nazareth von der Jungfrau Maria geboren, was den hohen Status und Wert der Jungfräulichkeit zeigt. Wird nun das „erste Blut“ einer Jungfrau als Opfergabe dargeboten, so ist dies ein wertvoller, aber auch göttlicher Pfand gegen die drohenden Verwüstungen von Seiten des Drachen. Die Annahme, dass der Drache die dargebotene Jungfrau verspeist, führt also zur Vermengung der beiden Extreme. Der Drache, in seiner Wildheit und Bosheit, vermengt sich mit dem Symbol der Reinheit und Milde, was zu einer Angleichung führt. Glaubt man den Überlieferungen, so soll sich ein Drache nämlich nach einer solchen Opferung für eine bestimmte Zeit stets ruhiger verhalten und seine zerstörerischen Absichten niedergelegt haben, ein Einfluss, den nur das Blut der Jungfrau auf den Drachen ausgeübt haben kann.
Oftmals kommt mit der Wahl einer Jungfrau als Opfergabe jedoch auch ein praktischer Nutzen für den Drachen daher. Eine Frau, die rein, unberührt und edel ist, mag sich weniger gegen ihr drohendes Schicksal wehren, da sie es schlichtweg nicht gewohnt ist, sich körperlich zur Wehr zu setzen und hinterlässt auch keinen Ehemann, der dem Drachen blutige Rache schwören kann. Zusätzlich ist solch eine Frau meist von jungem Alter und oft nicht im Vollbesitz der körperlichen Kräfte eines ausgewachsenen Menschen. Selbst wenn der Drache sich selbst mit seinen Klauen und Schuppen zu schützen weiß, so sind doch z.B. die Fingernägel einer um Ihr Leben kämpfenden Beute eine nicht zu unterschätzende Bedrohung, z.B. für die empfindlichen Augen des Drachen.
Die Vorliebe für Jungfrauen auf den besonderen Geschmack des unberührten Fleisches zu reduzieren, möchte ich jedoch ausschließen, da es keine nichtreligiöse Erklärung gibt, die bestätigen kann, dass mit Verlust der Jungfräulichkeit eine tief greifende Veränderung der Körperchemie einhergeht. Eher kann man davon ausgehen, dass dem Drachen junge Menschen schlichtweg besser schmecken als alte und die fehlerhafte Überlieferung aus jungen Menschen jungfräuliche Menschen machte. Warum dies jedoch Frauen sein müssen, kann nur geraten werden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass dies eng mit den Bestattungsritualen oder auch dem Totenkult mancher Völker zusammenhängt. So wurden beispielsweise die Pharaonen der Ägypter reich ausgestattet auf ihre letzte Reise gesandt, während die Wikinger gemeinhin zusammen mit ihren Waffen gen Walhalla fuhren. Ich möchte also folgende These aufstellen: Wenn Menschen für die Opferung an den Drachen vorgesehen sein sollten, so scheint es nicht abwegig, dass auch diese eine ähnliche Ausstaffierung erhielten, wie die Toten. Die Frauen erhielten wertvolle Preziosen, die Männer reich verzierte Waffen. Damit wird zumindest klar, warum der Drache Frauen bevorzugen musste. Männer stellen eine potentiell größere Gefahr dar als Frauen und Frauen liefern zudem noch wertvolle Kleinodien, die der Drache horten kann (s.Der Drachenhort). Diese These ist jedoch nicht ohne Vorsicht zu genießen, denn einerseits ist zu bedenken, dass es nicht üblich war, dass einer noch lebenden Opfergabe Präsente auf dem Weg ins Jenseits mitgegeben werden und andererseits war diese Art der Bestattung meist nur Kriegern, Priestern, Herrschern und Anwälten vorbehalten, während es sich bei besagten Opfern – geht man von einem realistischen und weniger dem märchenhaften Standpunkt aus – größtenteils um verarmte Bauern handelte.
Glücklicherweise kann man dieses doch recht blutige Thema auch von einer anderen Seite betrachten, die dem Drachenfan besser gefallen wird, da es den Fokus vom blutrünstigen, boshaften Wesen entfernt und in Richtung des unverstandenen, sanftmütigen Riesen verschiebt.
So beschreiben z.B. Montse Sant und Ciruelo Cabral in ihrem Buch „Das große Buch der Drachen“, dass Drachen junge Frauen in ihrer Höhle wohnen lassen. Diesen fehle es dort an keinem erdenklichen Komfort, wohingegen im Gegenzug die Nähe und Aufmerksamkeit der Frauen des Drachen Lohn für seine Gastfreundschaft darstellen. Es wird angenommen, dass Drachen großartige Poeten und Sänger seien und nicht nur gerne selbst ihre Werke zum Besten geben, wie es beispielsweise der Film „Dragonheart“ eindrucksvoll zeigt, sondern auch selbst den Klängen der Frauen lauschen, die zu ihrer Unterhaltung.
Die Auswahl der (un)glücklichen Jungfrau erfolgt stets durch den zweifelhaften Zufall einer Lotterie, an der alle Frauen des bedrohten Landstriches teilnehmen, die in Frage kommen, oder nicht reich genug sind, um sich von der Teilnahme freizukaufen.

 

 

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