Der Drachenhort

Wird ein Drache erschlagen, so ist dem Helden dessen ungeheuer reichhaltiger Schatz sicher. Die schönsten Preziosen, die größten Karfunkel, alle finden sich angehäuft in seiner Höhle und bewacht bis zu dessen Tode.

Warum aber sammeln Drachen dieser Kleinodien, warum hält sich hartnäckig die Aussage von den goldgierigen Monstern?

Im Kapitel "Sind Drachen gierig?"[1] haben wir bereits eine mögliche Erklärung angedeutet, nämlich die mythische. Drachen sind so alt wie die Zeit selbst. Alles was sie einst kennen und lieben lernten verging neben Ihnen und hinterließ Risse in Ihren Herzen. Edelsteine jedoch sind geduldig. Sie überdauern Verfall und Epochen genau wie Drachen es zu tun pflegen. In ihnen sieht der Drache einen Begleiter durch sein Leben. Viele Prunkstücke verbindet er mit Epochen oder bestimmten Ereignissen seines Lebens. Er kann diese Erinnerungen in seinen Lieblingen fokussieren und wieder zu neuem Leben erwecken, denn die Erinnerung in Ihnen ist stark. So stellt es sich im Laufe seines Langen Lebens ein, dass der Drache beginnt eben diese Steine zu sammeln und zu verteidigen, sind sie doch seine einzige Erinnerung an frühere Glanz und Glorie.

Natürlich hatten diese Steine auch einen praktischen Nutzen für den Drachen. Wie im Kapitel "Der Bauch des Drachen"[2] beschrieben, war der Bauch des Drachen aus verschiedenen Gründen eine sehr labile Konstruktion, die es um jeden Preis zu schützen galt. Viele Drachen machten es sich deswegen zur Gewohnheit Ihr Preziosen auf der Unterseite Ihres Körpers zu befestigen, wodurch diese nicht nur besser geschützt war, sondern auch die Edelsteine selbst einen gewissen Schutz vor Plünderungen genossen. Der Hort konnte also tatsächlich nur über die Leiche des Drachen ergattert werden.

Eine ganz und gar andere Theorie kann man jedoch aufstellen, wenn man das Phänomen des Gold hortens auf biologischer Ebene betrachtet.

Der Drache als solcher ist ein Wesen mit einer gar unglaublichen Körperchemie. Der Drachenatem, das Drachenblut, das Drachengas, welches ihn fliegen lässt, all diese Faktoren sollte uns eines vor Augen führen. Was passiert mit den Nebenprodukten? Diese müssen natürlich auch von einem Drachen ganz normal ausgeschieden werden. Das Ergebnis ist mit Sicherheit ein Chemiecocktail sonder gleichen, den der Drachen, ähnlich wie der Mensch ständig "ausschwitzt". Binnen kürzester Zeit würde jede Umgebung in der sich der Drache länger aufhält in eine Sickergrube verschiedenster Chemikalien verwandelt werden. Drachen sind Hort Bauer, sie verbringen oftmals viele Jahrhunderte in ihren Höhlen und sammeln deswegen auch eine Menge des oben genannten Schlamms an. Das dies auch nicht spurlos an ihnen vorüber gehen kann, ist folglich logisch, denn auch für den Menschen wäre ein ständiger Aufenthalt in seinen Ausscheidungen kein positives Unterfangen.

Hier kommen wir nun erneut an die Stelle an der wir uns Fragen müssen, warum Drachen begannen Gold zu sammeln. Es scheint keinen bekannten angeborenen auslösenden Mechanismus irgendeines uns bekannten Tieres zu geben, der ein ähnliches Verhalten zur Folge hätte, weswegen wir nicht von vererbtem Wissen sprechen können. Auch scheint der Gedanke an durch Elternpaare geprägtes Wissen eher abwegig zu sein, da Drachen bekanntermaßen Einzelgänger sind und häufig ohne einen elterlichen Schutz aufwachsen. Trotzdem, eine Gier nach Preziosen entwickelt sich bei fast allen Drachen schon früh, wodurch wir schließen können, dass wir uns einem Lernprozess des Drachen gegenüber finden. Führen wir an dieser Stelle noch einmal die angebliche Vorliebe des Drachen an, die wir schon im Kapitel "Drachen und Jungfrauen" angesprochen haben. In vielen der uns bekannten Sagen und Legenden werden den Drachen Jungrauen edlen Geschlechts vorgesetzt, um diesen für eine gewisse Zeitspanne zu besänftigen. Diese Jungfrauen werden, als eine Folge des Volksglaubens, reich mit Gold und Edelsteinen geschmückt und vom Drachen, dessen Gier nach Gold noch nicht so stark ausgeprägt ist, verschlungen. Der Metabolismus des Drachen, also dessen Stoffwechselvorgänge, sind so ausgelegt, dass sie dessen Nahrung bestmöglich zersetzen, wozu auch die starke Drachensäure ihren Beitrag leistet. Interessant jedoch erscheint, dass Gold und Edelsteine in hohem Maße resistent gegen die zersetzende Wirkung der Magensäuren eines Drachen sind. Sie werden, im Falle des Goldes, hauptsächlich unverändert wieder ausgeschieden oder aber bleiben, im Falle der Edelsteine, im Magen des Drachen zurück.

Scheidet ein Drache auch relativ wenig von seiner Nahrung wieder aus, so ist dies beim Gold definitiv der Fall. Dieses Gold sammelt sich natürlich mit der Zeit in dessen Hort an. Früher oder später bemerkt dies der Drache und er stellt auch fest, dass das weiche Gold sich hervorragend dafür eignet, um darauf zu ruhen. Die relativ weiche Erscheinungsart reinen Goldes macht es ihm dadurch möglich sich eine Unterlage ohne für seinen ungeschützten Unterleib gefährliche Spitzen und Kanten zu erzeugen. Unser Drache lernt. Er beginnt zu verstehen, dass das goldene Metall, welches sein jungfräuliches Futter stets zu tragen pflegt, sich außerordentlich gut dazu eignet, die eigenen Schuppen vor dem erwähnten Schlamm zu schützen und beginnt seinerseits mit der Suche nach mehr Gold, welches ihm die verschüchterte Landbevölkerung natürlich auch prompt liefert, sobald er deren Herden und Felder terrorisiert.

Für die Edelsteine in des Drachen Bauch gibt es indes einen anderen Verwendungszweck. Wie wir aus dem Kapitel "Drachen und der Flammenatem"[3] wissen, benötigen Drachen um zu fliegen und Feuer zu speien ein selbst produziertes Gas, welches durch die Reaktion von Salzsäure und den Knochenwänden entsteht. Dem Drachen dürfte schon recht früh im Laufe seiner Entwicklung aufgefallen sein, dass er anschließend erheblich besser fliegen kann, wenn er Kalkgestein zu sich nimmt. Doch selbst für die Drachensäure und die starken Muskeln des Drachen sollte es, wenn schon nicht schwer fallen, so doch zumindest lange dauern, bis diese zersetzt werden und der Drache das enthaltene Kalzium an seinen Knochen ablagern und für die Gasproduktion verwenden kann. Die harten Edelsteine in seinem Magen jedoch beginnen ab einer gewissen Menge wie natürliche Mahlsteine zu wirken und diesen Vorgang zu beschleunigen. Im Zusammenspiel mit den Magenwänden zerkleinern sie die gefressenen Steine viel effektiver und schneller, wodurch sie der Drache schneller verwerten kann. Ein möglicherweise entscheidender Vorteil!

Werfen wir einen Blick zurück auf unsere mythischere These. Ein Drache besetzt seinen Bauch mit Edelsteinen, um ihn zu schützen? Auf den ersten Blick mag dies durchaus so wirken. Ein Drache hinterlässt seinem Bezwinger seinen Hort? Selbstverständlich! Denn wurde der Drache besiegt, was ja zumeist durch einen Streich gegen seinen Bauch vollzogen wurde, so quellen dem kühnen Recken plötzlich die über die Jahrhunderte gesammelten Edelsteine entgegen. Die These des Edelstein-Gespickten Bauches drängt sich nun förmlich auf und auch der bis zum Tode bewachte Hort erscheint uns plötzlich logisch verständlich zu werden.

Wie aber erklären wir folgende Ungereimtheit, die sich aus diesem Zusammenhang ergibt? Trotz eines relativ langen Lebens erscheint es unwahrscheinlich wenn nicht gar unmöglich solch unglaubliche Massen an Gold anzusammeln, wie sie manchen Drachen zugesprochen werden. Den Versuch zur Lösung bei reichen anwohnenden Menschen anzusetzen führt uns in eine Sackgasse, denn diese mögen vielleicht Ihre "Opfergaben" reichhaltig schmücken, doch geschieht auch dies nur einmal alle paar Monate oder gar Jahre und auch Drachen werden nicht jünger. Der Ansatz am Zahn der Zeit führt dabei schon ein klein wenig weiter, denn der Drache hat ein sehr langes leben während dessen er eine Menge Gold ansammeln kann. Hierbei stört jedoch die Tatsache, dass Drachen dazu geschaffen wurden, um zu fliegen. Mit einer größeren Menge an Edelsteinen im Bauch ist dies jedoch nur bedingt bis gar nicht mehr möglich. Mit der Zeit würde der Drache also immer verwundbarer werden.

Verwundbarer also! Eventuell auch verwundbarer gegenüber den Versuchen eines jungen Drachen ihm sein Revier und seine sichere Schutzhöhle streitig zu machen? Wäre es nicht also gut möglich gewesen, dass unser alter Drache, schwer durch die Last der vielen Edelsteine und behäbig durch sein langes Leben durch einen jüngeren, kräftigeren Drachen ersetzt wurde, nachdem dieser den alten Drachen tötete und somit dessen Hort erbte? War es vielleicht sogar möglich, dass im Laufe der Jahrhunderte viele Drachen auf eben diese Art und Weise ersetzt wurden und sich deswegen immer mehr Gold und Edelsteine ansammelten, die ein einzelner Drache niemals hätte anhäufen können?

Für welche These man sich auch letztendlich entscheidet, der Hort eines Drachen ist und bleibt eine Ansammlung der wertvollsten Preziosen, die für viele Möchtegern Helden einen Anreiz auf ein Abenteuer bildeten.

  1. [1]s. Sind Drachen gierig
  2. [2]s. Der Bauch des Drachen
  3. [3]s. Flammenatem

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