Strahlende Götter des Ostens (Ciruelo Cabral)

Zur Zeit der Tangdynastie, vor mehr als tausend Jahren, war China ein Reich der Wunder, ein Land, wo die Künste eine Vollkommenheit erreicht hatten, von der die Völker des Westens nicht einmal träumen konnten. Die Hauptstadt Tschangan, geschützt durch hohe Mauern mit zahlreichen Toren, war von einem Netz breiter Prachtstraßen durchzogen, und unter den Ziegeldächern der Palastwerkstätten arbeiteten Handwerker, die groben Lehm in allerfeinstes durchscheinendes Porzellan zu verwandeln verstanden und stumpfes Erz in glänzende Skulpturen, so lebensecht, daß sie zu atmen schienen. Aus dem Gespinst der Raupen schufen sie hauchdünne Seidenstoffe, und mit Erde und Bäumen gestalteten sie Gärten von juwelengleicher Vollkommenheit. In einem solchen Garten, geschmückt mit stillen Seen, die angelegt waren, um Mond und Sterne zu spiegeln, mit Brückenbögen und luftigen Aussichtspavillons, lebten einst zwei Drachen. Dieser Garten, den der Eremit Lu Kuei Meng in seiner kunstvollen Handschrift beschrieb, gehörte einem Edelmann, der nicht weit von Tschangan auf dem Land lebte. Er war ein Sammler von Schätzen der Natur. Schwerfällige Pandas aus den Grenzgebieten Tibets verbargen sich scheu zwischen den Bambushalmen des Gartens, goldgefiederte Pfauen und Kicherdrosseln flatterten hinter seinen durchbrochenen Mauern, Yaks und mongolische Dromedare streiften durch seine Glyzinien, ein sibirischer Tiger trottete durch sein Teehaus, und in dem glasklaren, spiegelnden Teich hauste das Drachenpaar. Die Drachen, die mit allen Köstlichkeiten gefüttert wurden, die ein Sterblicher zu bieten vermochte, waren zahme, durch die Gefangenschaft träge gewordene Geschöpfe. Tag für Tag lagen sie regungslos auf einer künstlichen Insel im See in der Sonne, ihre blauen und roten Schuppen schillerten;ihre faltigen Lider waren über gelben Augen halb geschlossen. In kurzen Abständen glitten sie ins kühle Wasser und begaben sich ans Seeufer, wo große Schüsseln aus feinem Porzelan für sie standen, gefüllt mit Kormoran und Gans, gebratenen Schwalben und Haien, mit Ente und Schwein. Drachen, so berichtete Lu Kuei Meng, waren stets gefräßig:“Die großen Wale in allen Meeren reichen nicht aus, um den Appetit der Drachen zu stillen. “ Durch unentwegte Fütterung wurde das in Gefangenschaft gehaltene Paar sanftmütig und etwas von ihrer Drachennatur ging den beiden verloren:Inzwischen ganz und gar erdgebunden, hatten sie kaum noch Ähnlichkeit mit den wilden Geistern von Wind und Wasser, die sie einst gewesen waren. Eines Tages schwebte ein wilder Drache hoch über den Ziegeldächern der Palasthäuser. Als Herr des Windes bewegte er sich kreisend und tänzelnd nach Art des Drachenfluges mit mächtigen Schwingen auf den Luftströmungen. Schließlich erspähten seine weitblickenden Augen den Garten mit den silberblättrigen Weiden und den weißblühenden Pflaumenbäumen, und auf dem glasklaren See sah er zwei Wesen seiner Art, wie sie sich in der Sonne wärmten. Der Drache schwebte in gemächlichen Kreisen herab, bis er sich schließlich auf dem Dach des Teehauses niederließ, dessen First sich unter seinem Gewicht bog. Er beobachtete die gefangenen Drachen, er betrachtete die mit Speisen überhäuften Schüsseln, und mit hallender Donnerstimme begann er in seiner Sprache zu den beiden zu sprechen. „Fliegt mit mir in die Freiheit, Brüder“, sagte er. „Wohnt in den Tiefen der Gewässer und schwebt am Himmel. Rastet in Gefilden jenseits der Grenzen der Lüfte. Wir sind kein Spielzeug für Sterbliche, sondern Geister, die auf den Winden reiten und die Wolken vor sich herblasen. “ Doch die Drachen des Edelmannes waren verdorbene Kreaturen;es ist durchaus möglich, daß ihre erschlafften Schwingen die Fähigkeit zu fliegen verloren hatten. Sie öffneten die Augen, als das wilde Wesen sprach, doch ihre schweren Kiefer blieben auf dem warmen Felsgestein im See liegen. Die goldenen Augen schlossen sich langsam wieder. Die Drachen rührten sich nicht. Abermals sprach die donnernde Stimme:“Wer bei Menschen lebt, wird für Menschen sterben. “ Und mit seinen ausladenden Schwingen die Luft umgreifend, erhob sich der wilde Drache und schwebte kreisend höher und höher in den tiefblauen Himmel hinein, bis er den Blicken entschwand. Drachen besaßen die Gabe der Vorhersehung, und die Prophezeiung erfüllte sich. Lu Kuei Meng schildert in seinem Bericht nicht, wie es dazu kam, aber der Palast des Edelmannes wurde gestürmt und geplündert, die Bewohner wurden hingerichtet, die Menagerie geschlachtet. Nur die kostbaren Drachen ließ man am Leben. Sie wurden in Ketten nach Tschangan geschafft, in einem Triumphzug durch die breiten Prachtstraßen geführt und anschließend zum Palast des Kaisers gebracht, wo man die Wundertiere den gelangweilten Höflingen zur Unterhaltung vorführte. Danach wurden die Drachen geschlachtet und verzehrt.

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