Der Dachentöter (Sigrid Früh)

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Als sie erwachsen waren, ließ er ihnen kostbare Gewänder anfertigen, gab jedem einen schön verzierten Gürteldolch und ein gutes Schwert in die Hand und sprach: „Nun reist hinaus in die Welt, seht euch überall wohl um und versucht euer Glück!“ Dazu waren die drei Brüder gleich bereit, nahmen Abschied von ihrem alten Vater und zogen zum Tor hinaus. Als sie ein gutes Stück gewandert waren, kamen sie zu einer großen Tanne; da beschlossen sie, sich zu trennen. „Wir wollen unsere Dolche in diese Tanne stecken“, sagte der älteste. „Kommt einer von uns zu irgendeiner Zeit wieder einmal hier vorbei, so mag er an ihnen erkennen, ob wir noch am Leben oder ob wir gestorben sind, und dies wird das Zeichen sein: wessen Dolch einen Rostfleck zeigt, der ist tot und wird die Heimat seiner Väter nie mehr wiedersehen.“ – Sie stießen also die blanken Klingen tief in den Baum; dann ging der eine zur Rechten, der andere zur Linken, der jüngste aber zog geradeaus und kam bald in einen großen, finsteren Wald.

Wie er nun so allein zwischen den dunklen Tannen dahinging, kam ihm mit einem Mal ein Bär entgegen. Ohne langes Besinnen griff er nach seinem Schwert und wollte ihm auf den Pelz rücken. Der Bär aber rief: „Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!“ trottete freundlich und zutraulich heran und begleitete den Königssohn durch den Wald. Als er wieder eine Strecke gewandert war, kam plötzlich ein großer, wilder Wolf dahergesprungen. „Im nächsten Augenblick schon schwang der Prinz sein Schwert, stellte sich ihm in den Weg und wollte ihn erschlagen. Der Wolf aber rief: „Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!“ – Da ließ er auch ihn am Leben, und nun zog der Wolf mit dem Bären hinter ihm her. Es dauerte nicht lange, da stand, wie aus der Erde gewachsen, ein mächtiger Löwe vor ihm und fletschte die Zähne. Dem Königssohn fuhr geschwind der Schreck in die Glieder; dann aber zog er blitzschnell sein Schwert, um es ihm in den Rachen zu stoßen. Weil aber der Löwe sagte: „Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!“, schenkte er auch ihm das Leben. Nun zog auch der Löwe mit dem Wolf und dem Bären hinter ihm her, und alle drei Tiere wichen nicht mehr von ihm.

Lange Zeit wanderte der Prinz mit seinen Begleitern durch den Wald, ohne einem Menschen zu begegnen. Endlich sah er in der Ferne eine Stadt. Da schritt er munter voran und zog bald darauf mit seinen Tieren durch das Tor ein. Doch seltsam: Alle Häuser waren mit schwarzem Flor behangen, und die Menschen gingen stumm und traurig durch die Straßen. Da fragte der Prinz, was denn der Stadt widerfahren sei. „Ach !“ erzählten ihm da die Leute, „auf dem Berg dort, wo die Kapelle steht, haust ein siebenköpfiger Drache. Dem muß man jeden Tag ein unschuldiges Mädchen zum Fressen bringen sonst ist vor ihm niemand seines Lebens sicher. Nun aber soll ihm morgen die einzige Tochter des Königs ausgeliefert werden, und darum ist die Stadt in so tiefer Trauer.“ – „Das verstehe ich wohl“, meinte der Prinz, „aber – ist denn gar keine Rettung möglich?“ -„Ja, das fragen wir auch, lieber Herr“, sagten sie. „Der König hat wohl schon lange im ganzen Lande bekanntmachen lassen, daß er dem Drachentöter die schöne Prinzessin zur Frau geben wolle; doch bis heute hat sich keiner gefunden, der den Kampf mit dem Ungeheuer wagen will.“ – Der Prinz hörte sich alles genau an und dachte: „Wenn d u den Drachen erlegen und die schöne Königstochter gewinnen könntest! Vielleicht würden die drei Tiere dir helfen?“ Und er nahm sich vor, den Kampf gegen den Drachen zu versuchen.

Am anderen Morgen, als die Sonne aufging, gürtete er sich sein Schwert um und stieg auf den Drachenberg, von seinen treuen Tieren begleitet. Als er zu der Kapelle kam, ging die Prinzessin gerade hinein, um zu beten. Sie war so jung und schön, daß er wie gebannt stehenblieb und ihr nachschaute. Da wurde er plötzlich durch ein fürchterliches Brüllen und Fauchen aufgeschreckt, und aus der Felsschlucht hervor stürzte der siebenköpfige Drache ungestüm auf ihn ein. Der Bär, der Wolf und der Löwe warfen sich wütend auf das Untier und jeder riß und biß ihm zwei Köpfe ab. Der siebente Kopf aber, der schrecklichste und gefährlichste von allen, fiel unter dem scharfen, Schwert des Prinzen in den Sand. Lang ausgestreckt lag der tote Drache in seinem Blute. Da trat die Prinzessin aus der Kapelle, ihrem Retter zu danken. Sie nahm die goldene Kette, die sie bisher selber, getragen, zerteilte sie und legte jedem der Tiere ein Stück davon um den Hals. Zu dem Prinzen aber sagte sie: „Ich danke dir von Herzen, du tapferer Mann! Du hast mich vom Tode errettet, und dafür will ich dir für mein ganzes Leben als deine liebe und treue Frau gehören! Nun aber komm mit zu meinem Vater. „Es kann noch nicht sein, liebe Prinzessin“, sagte er; „ich muß mich zuerst noch eine Weile in der Welt umsehen. Heute übers Jahr aber komme ich wieder und dann wollen wir Hochzeit halten!“ Darauf schnitt er aus den sieben Drachenköpfen die Zungen heraus, wickelte sie in ein seidenes Tuch und steckte sie in die Tasche. Dann nahm er Abschied von seiner Braut und zog mit seinen getreuen Tieren auf gut Glück in die weite Welt hinaus.

Als der Prinz ihren Blicken in der Ferne entschwunden war, stieg die Prinzessin in die Kutsche, die am Fuße des Berges wartete, um sich nach Hause fahren zu lassen. Der Kutscher fuhr aber erst ab, nachdem er die sieben Drachenköpfe zu sich auf den Wagen geladen hatte. Und wie sie unterwegs durch einen dunkeln Wald kamen, hielt er plötzlich die Pferde an und sagte zu der Prinzessin: „So, nun sind wir allein und keiner ist da, der dir helfen könnte! Sage zum König, i c h hätte den Drachen getötet! Versprich es mir, oder du mußt auf der Stelle sterben!“ Was konnte da die Prinzessin anderes tun, als zustimmen, wenn ihr das Leben lieb war? Als sie im Schloß ankamen, wies der Kutscher dem König die sieben Drachenköpfe vor, verlangte die Prinzessin zur Frau und wollte, daß die Hochzeit gleich am anderen Tage stattfinden sollte. Der König, der sein Wort halten wollte, war damit einig; die Prinzessin aber brachte es unter allerlei Vorwänden fertig, daß die Hochzeit immer wieder aufgeschoben wurde. Ein ganzes Jahr lang trieb sie es so; dann aber mußte sie dem Drängen des Kutschers doch nachgeben. Sie tat es auch scheinbar willig, weil sie hoffte, daß der rechte Bräutigam sich nun bald einfinden werde, so wie er es ihr versprochen hatte.

Und richtig, als das Jahr bald um war, hatte der Prinz sich genug in der Welt umgesehen und die Heimreise angetreten. Als gerade noch ein einziger Tag an dem Jahr fehlte, kam er in der Stadt an und war erstaunt darüber, wie lustig und lebendig es überall zuging. Er kehrte in einem Wirtshaus ein, fragte den Wirt, ob er hier übernachten könne und fügte so beiläufig hinzu: „Was geht denn hier vor? Vor einem Jahr war die Stadt mit Trauerflor behangen und die Leute gingen stumm und traurig umher; heute dagegen sehe ich überall fröhliche Gesichter und die Stadt ist wie zu einem Fest geschmückt!“ -„lhr habt’s erraten“, antwortete der Wirt und erzählte ihm, daß morgen die Königstochter Hochzeit halte mit dem Kutscher, der sie vor einem Jahr aus den Klauen des Drachen errettet habe. „Soso“, sagte der Prinz, trank sein Glas leer und begab sich in seine Schlafkammer hinauf.

Am anderen Tag, während droben im Schloß das Hochzeitsmahl im Gange war, saß der Prinz, als Jäger gekleidet, mit dem Wirt in der Schankstube. Sie sprachen von der schönen Prinzessin und dem Drachentöter und dem prachtvollen Fest, und dabei sagte der Prinz: „Herr Wirt, holt mir doch auch einen Krug von, dem Wein, den die Braut im Schlosse trinkt!“ – „Das kann ich nicht, Herr!“ antwortete der Wirt. „Dann muß ich halt meinen Wolf hinschicken!“ meinte der Prinz; rief den Wolf zu sich und sagte: „Geh zu der Prinzessin ins Schloß und sage, dein Herr lasse um einen Krug von dem Wein bitten den sie selbst trinke!“ Es dauerte nicht lange, und der Wolf kam mit dem Krug angesprungen. Da konnte der Wirt sich nicht genug wundern“, saß nur da und sah den Fremden an und schüttelte den Kopf. „So, jetzt will ich auch von dem Braten haben, den die Braut ißt!“ sprach der Prinz und schickte den Bären aufs Schloß, und der brachte wahrhaftig nach einer Weile ein Stück vom allerbesten Braten. „Nun fehlt bloß noch ein Stück von dem Brot, das die Prinzessin ißt!“ sagte der Prinz, und schickte den Löwen hin. Der kam nach kurzer Zeit mit einem großen Stück Brot im Maul angetrottet.

Die Prinzessin aber, die an der Hochzeitstafel saß, hatte die Tiere erkannt und wußte wohl, wer ihr Herr war. Darum gab sie ihnen auch alles, was sie forderten, von Herzen gerne. Der König hatte die sonderbaren Besucher mit Staunen beobachtet, nahm endlich seine Tochter beiseite und sprach: „Nun sage mir doch einmal, meine liebe Tochter: Was hast du eigentlich mit diesen wilden Tieren im Sinn?“ Da erzählte die Prinzessin ihrem Vater alles, so wie es sich zugetragen hatte, und gestand ihm zuletzt, daß der wahre Drachentöter nun da sei und daß sie den und keinen anderen heiraten werde. Der König schickte sogleich einen Boten in das Wirtshaus und ließ den Herrn, dem die drei wilden Tiere gehörten, zur Tafel laden. Als die Hochzeitsgäste nun alle genug gegessen und getrunken hatten und noch eine Weile so recht vergnügt beisammen saßen, sagte der König: „Wir wollen uns zur Unterhaltung ein wenig erzählen. Und wer wird mehr erzählen können als der Drachentöter und unser lieber Gast, der Jäger, der heute erst von einer weiten Reise zurückkehrte? Beginne also, Freund Drachentöter!“ Da ließ der falsche Drachentöter die sieben Drachenköpfe auf den Tisch legen und berichtete mit vielen aufgeblähten Worten, wie er sie damals im Kampf dem Untier abgeschlagen habe. Und alle, die von dem bösen Betrug nichts wußten und den Kutscher für den Drachentöter hielten, bewunderten ihn und spendeten ihm Lob über Lob. Der König aber verzog keine Miene und sagte nur: „Nun denn, Herr Jäger, erzählt Ihr einmal von Euren Abenteuern!“

Der erhob sich, verbeugte sich höflich und gestand zum ersten, daß er kein Jäger, sondern ein Prinz sei. Dann schilderte er getreulich, auf welch eigentümliche Weise er zu den treuen Tieren gekommen sei und wie sie geholfen hätten, einen siebenköpfigen Drachen zu überwinden und eine Königstochter vom sicheren Tode zu erretten. „Und welch ein Zufall“, sagte er, „gerade heute vor einem Jahr und nahe bei dieser Stadt hat sich all das zugetragen. Auch die Drachenköpfe hier kommen mir so bekannt vor, als ob ich sie schon einmal gesehen hätte. Nur, will mir scheinen, haben sie keine Zunge im Maul, was doch sonst gewiß bei allen Tieren der Fall ist.“ Da erhob sich der König und rief: „Diener! Öffnet die Drachenmäuler!“ Und richtig, – in keinem von allen sieben war eine Zunge zu entdecken. „Wo sind die Zungen, Kutscher?!“ stellte der König den falschen Mann zur Rede. „Da müßt Ihr nicht den da, sondern, mich fragen, Herr König“, entgegnete der Prinz. „Hier sind sie!“ – und dabei wickelte er die sieben Zungen aus dem seidenen Tuch. Und siehe, sie paßten genau auf die abgeschnittenen Enden in den Rachen der Drachenköpfe. „Und nun, edle Prinzessin“, wandte sich der Prinz an die Königstochter, „kennt Ihr vielleicht die goldene Kette am Hals meiner Tiere?“ – „O gewiß!“ sagte sie, „die kenne ich gut! Ich selbst habe sie ja deinen Tieren umgehängt, weil sie dir so treu und tapfer im Kampf gegen den Drachen beigestanden haben.“

Nun wußte der König gewiß, daß der Prinz der wahre Drachentöter, der Kutscher aber ein arglistiger Betrüger war. In der gleichen Stunde noch wurde der Falsche dem Henker übergeben. Der Prinz und die Prinzessin aber hielten Hochzeit und lebten nach des alten Königs Tod noch lange Jahre in Glück und Freude als König und Königin.

Was aus den beiden Brüdern des Königs geworden ist? Niemand weiß, ob sie heimgekehrt sind oder heute noch in der Welt umherwandern. Wenn ich aber an die große Tanne komme, will ich doch nachsehen, ob sie noch am Leben sind oder ob die blanken Klingen Rostflecke bekommen haben.

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