Ein Initiationsritenreigen – Rezension zum Buch „Drachen“ von Andreas Gößling

Andreas Gößlings Märchensammlung Drachen erzählt einige bekannte und weniger bekannte Geschichten, Mythen und Legenden aus aller Welt, in denen die großen, schuppigen Feuerspeier in irgendeiner Form eine Rolle spielen. Darunter ist etwa das Märchen von Dreck-Jack, der das Königreich vor einer gigantischen Seeschlange rettet. Oder die Geschichte eines habgierigen chinesischen Bauern, der zwei Drachenjungen für seine Zwecke einsperrt. Fafnir kommt ebenso vor wie die Riesenschlange Jörmungandr, der weltenverschlingende Kholomodumo oder der Drache der Hesperiden. Eine Märchenreise um die ganze Welt mit Drachen als verbindendem Element.

Wenn man sich mit Drachenmärchen auskennt, dann werden einem einige der Geschichten sehr bekannt vorkommen, beziehungsweise wird man sie bereits schon einmal anderswo gehört haben. Vor allem der Drache Fafnir aus dem Nibelungenlied gehört zur Allgemeinbildung, aber auch die Drachen der nordischen und griechischen Sagen sind hierzulande bereits recht bekannt. An dieser Front kann Andreas Gößlings Buch Drachen dem interessierten Märchensammler nur wenig Neues bieten, dennoch ist der Teil des Buchs unerlässlich, will man den Vergleich zu Märchen mit ähnlichen Motiven aus anderen Teilen der Welt ziehen. Dort zeigen sich einmal mehr die subtilen Unterschiede der Perzeption von Drachen zwischen hier und Asien. Zwar verkörpern die geschuppten Monster immer eine schier unbezwingbare, gelegentlich sogar göttliche Kraft und stellen fast immer eine Gefahr dar, im Westen dienen sie jedoch mehr als Hindernis für den Helden, im Osten mehr als Chance. Eines ist nahezu immer gleich: Die Begegnung mit dem Drachen ist der Initiationsritus für den sich zu beweisenden Protagonisten. Ob er nun 100 Köpfe abschlagen oder den Drachen zu einer Hilfestellung überzeugen muss, immer ist das Monster Respekt einflößendes Bildnis einer schwierigen Aufgabe. Wenn der Held scheitert, liegt in der Geschichte eine Moral. Wenn der Held triumphiert, wird sein Triumph durch die Schwierigkeit der Aufgabe (meist in der Zahl an Köpfen und in Weltumrundungen, die der Leib des Monsters lang ist, gemessen) nur noch erhöht.

Das Problematische an Drachenmärchen ist, dass sie sich sehr ähneln. Wenn es um’s Drachentöten geht, wird einem immer und immer wieder das gewohnte Schema mit mehr Köpfen und noch mehr Köpfen und noch mehr Köpfen unterkommen, die der Held abzuschlagen hat, wobei sich die Methoden und Elemente des Märchens nur subtil verändern. Allmächtige Helden, die sich der augenscheinlich übermächtigen Bedrohung entgegenstellen müssen, das Schema nutzt sich schnell ab. Die etwas anderen Märchen kommen dem gegenüber seltener vor oder behandeln Drachen sogar nur völlig am Rande. Nichtsdestotrotz ist Drachen eine etwas andere Märchensammlung jenseits von Grimm und Andersen, die sich zum Vorlesen für Kinder jedoch wahrscheinlich weniger eignet und mehr einen kleinen Querschnitt durch einen weltweiten Mythenfundus bietet.

Gößling hat die Märchen nach eigenen Worten mit "dichterischer Freiheit behandelt und überwiegend neu erzählt", um "heutigen Lesern den Zugang zu erleichtern." Da frage ich mich: Aus welchem Grund liest man eigentlich Märchen? Einfach so wie eine normale Geschichte kann man sie eigentlich nicht rezipieren, denn sie funktionieren nicht nach unseren Vorstellungen, wie eine gut erzählte Geschichte auszusehen hat, und erfüllen einen anderen, symbolischen Zweck. Also kann der Grund nur ein mehr oder minder professioneller sein, wenn man, wie es eben die Intention des Buchs ist, einen weltweiten Vergleich erhalten oder die Märchen auf ihren Symbolcharakter hin lesen möchte. Und in diesem Fall hat man eigentlich das Bedürfnis und auch das Recht, die Texte im originalen, so dicht wie möglich übersetzten Zustand zu lesen.

Fazit: Die Zielgruppe, an die sich Gößlings Drachen wenden, ist (auch angesichts des reißerischen Rückentexts: "…sie sind Geschöpfe der Hölle.") unklar. Wenn man sich ein wenig für Märchen interessiert, bekommt man hier jedoch trotzdem ein sehr schön aufgemachtes Buch mit einigen netten Zeichnungen und ungewöhnlichen Märchen, von denen man hierzulande wahrscheinlich noch nichts gehört hat.

 

© Doc

Mit freundlicher Genehmigung von Grimoires.de

 

Beitrag weiterempfehlen:

Kommentieren ist momentan nicht möglich.

Stöbere im Archiv