Der erste Drache

Als man mich vor einigen Jahren einmal fragte, ob ich den Namen des ersten Drachen kennen würde, musste ich geknickt verneinen. Ich kannte ihn tatsächlich nicht, wie ich mir zu meiner Schande eingestehen musste und ich begann mit Nachforschungen. Zwar ist es mir auch heute nicht möglich den wahren Namen des ersten uns bekannten Drachen auszusprechen (aus Gründen, die ich im Kapitel "Der Name des Drachen" erläutere), allerdings bin ich der endgültigen Klärung dieser faszinierenden Frage ein beachtliches Stück näher gekommen.

Nidhögg war es also, Nidhögg war der erste Drache unserer Welt. Aber stimmt dies auch wirklich? Woher sollen wir wissen, ob es nicht schon zuvor Drachen gab?

Einem Jahrtausende alten Babylonier und seiner auf 7 Tontafeln niedergeschriebenen Schöpfungsgeschichte können wir beispielsweise die Geschichte der göttlichen Drachenmutter "Tjamat" verdanken. Dieser Schreiber aus dem fruchtbaren Mesopotamien, welches von den Flüssen Euphrat und Tigris umflossen wird, schrieb die Entstehung der Ordnung als die Trennung des Lichts von der Dunkelheit und des Himmels von der Erde, nieder, eine Geschichte, die schon Jahrhunderte lang immer weiter mündlich übertragen worden war. Endlich war das Chaos von der Ordnung getrennt, die schöpferische Energie aller Dinge beruhte nun auf zwei göttlichen Urwesen. Eines war männlich und verkörperte den Geist des Süßwassers und der Leere. Sein Name, "Aspu", schallte in die formlose Leere. Das andere Wesen hingegen war weiblich und ihm wohnte der Geist des Salzwassers und des Chaos inne. Dieses Wesen, mit dem Kiefer eines Krokodils, den Zähnen tausender Löwen, den Flügeln einer gigantischen Fledermaus, den Beinen einer Eidechse, den Krallen eines Adlers, dem Leib einer Python und den Hörnern eines Stieres war die Drachenmutter "Tjamat" und Ihr Name war es, der die Unterwelt zum Erzittern brachte. Das Ungleiche Paar in Ihrem Liebesspiel schuf die Götter. Jedoch eines eben dieser Kinder erschlug seinen Vater "Aspu". In Ihrer unendlichen Drachenwut gebar "Tjamat" Nachkommen, die so durchtrieben und chaotisch waren wie sie selbst. Diese Ungeheuer sollten Ihre Erstgeborenen für den Frevel und dem Mord an Ihrem Gatten auf ewig peinigen und so herrschten fortan Skorpione, Dämonenlöwen, Riesenschlangen und Drachen, ein Abbild "Tjamats" selbst, über das Chaos und die formlose Leere und lehrten den Göttern das Fürchten.

Zu Ihrem eigenen Schutze beriefen die Götter einen der ihren zum Kämpfer gegen die Ungeheuer. Es war "Marduk", Herrscher des Weltalls, der bewaffnet mit einem Netz und einer Keule, Giftpfeil und Bogen sowie einem Köcher voller Blitze sich aufmachte, das Weltall nach "Tjamat", der Drachenmutter zu durchsuchen. Begleitet wurde sein kräftiger Sturmwagen von vier Winden und einem Wirbelsturm. "Marduk" breitete sein Netz über dem Weltall aus und fing darin seine Drachenmutter ein. Und er ließ die Winde in Ihr Gesicht blasen, bis sich Ihr Leib blähte und Sie Ihr Maul nicht mehr schließend konnte. Marduk zielte und mit einem einzigen Schuss durchschlug er Ihre Wangen, bohrte sich tief durch Ihr Herz und spießte ihr Inneres. Er spaltete Ihr Herz und rächte sich an Ihrem Körper, bis sie machtlos zu seinen Füßen sank und Ihr Leben aushauchte. "Tjamats" Tod und der sich aufrecht auf ihren Körper stützende "Marduk" ließen "Tjamats" Geschöpfe des Chaos schaudern und sie flohen in großer Panik in alle Richtungen der Leere. Doch Marduk fing Sie alle, legte sie in Ketten und warf sie in die Unterwelt herab, wo sie auf ewig für Ihre Taten und Ihr chaotisches Dasein leiden sollten. Darauf spaltete er "Tjamats" Körper, durchtrennte Ihre Adern und formte aus den entstandenen Hälften das Firmament und die Erde. Er errichtete seinen Götterbrüdern und Götterschwestern einen prächtigen Wohnsitz im Firmament und befestigte daran die Sterne und den Mond, den Hüter der Zeit. Aus dem Blut seiner erschlagenen Mutter jedoch formte "Marduk" die Menschen, auf das die Welt ein Ort werde, der die Götter erfreute.

Auf diese Weise, so heißt es in den ältesten Schriften, wurde die Welt aus dem Kosmos gehoben!

Viele Geschichten ranken also um die ersten Drachen, immer in Verbindung mit der Entstehung des Universums und der Trennung des ordentlichen, bekannten und des chaotischen, gefährlichen. Seit jeher haben sich demnach schon die Menschen mit der Existenz der Drachen beschäftigt. Sie sind ein Sinnbild des chaotischen, der Zerstörung und somit der jedem Menschen inne wohnenden Furcht vor dem Unbekannten.

Jedes Volk hat Ihre ureigenste Verkörperung dieser Angst in einer Legende, einem Mythos, der um einen Drachen rankt, aber den Ersten, den werden wir wohl nie finden.

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