Der dreizehnte Sohn des Königs von Erinn (Sigrid Früh)

Der dreizehnte Sohn
des Königs von Erinn


Vor langer Zeit lebte einmal ein König in Erinn, und der hatte dreizehn Söhne. Als sie herangewachsen waren, ließ er sie in allen Künsten unterweisen, die ihrem Rang angenmessen waren. Nun geschah es, daß der König eines Tages auf der Jagd zu einem See kam, darauf sah er eine Schwanenmutter mit dreizehn Jungen. Diese aber hielt nur zwölf davon bei sich. Das dreizehnte aber trieb sie immerzu weg und ließ es den andern nicht nahe kommen. Darüber wunderte sich der König sehr. Als er nun nach Hause kam, rief er seinen Ratgeber, den alten blinden Weisen, zu sich, und sprach: „Etwas Seltsames sah ich heute bei der Jagd. Da war eine Schwanenmutter mit dreizehn Jungen. Doch sie behielt nur zwölf bei sich und trieb das dreizehnte immerzu weg. Sage mir doch du, der du weise bist, was hat das zu bedeuten? Warum sollte eine Mutter ihr dreizehntes Kind hassen und die zwölf andern beschützen ?“ „Wisse“, sprach der alte blinde Weise, „alle Geschöpfe der Erde, ob Tier oder Mensch, welche dreizehn .Junge haben, sollten das dreizehnte wegstoßen, damit es allein durch die Welt wandere und sein Schicksal suche, damit der Wille des Himmels sein Werk an ihm tun kann und die andern verschonen möge. Auch du, mein König, der du dreizehn Söhne hast, mußt den dreizehnten der Diachbha, der Schicksalsgottheit, ausliefern.“ „War es das, was die Schwanenmutter mir zeigen wollte, daß auch ich meinen dreizehnten Sohn der Diachbha geben muß?“
„Ja, so ist es“, sprach der Weise, „du mußt einen von deinen dreizehn Söhnen hergeben.“
„Ach“, klagte der König, „wie kann ich einen fortgeben, wenn ich sie alle liebe, und welcher sollte es denn sein?“ „Ich will dir sagen, was du tun mußt“, antwortete der Weise. „Wenn heute abend deine dreizehn Söhne heimkommen, so schließe die Tür vor dem letzten.“ Nun war aber einer der Königssöhne sehr langsam. Er war nicht so flink und gewandt wie seine Brüder. Es war der Älteste, und man nannte ihn Sean Ruadh (der rote Johann), und doch war er der beste und größte Held von allen. An diesem Abend nun kam er als letzter heim, und als er vor der Türe stand, schloß sie sein Vater vor ihm zu. Sean Ruadh hob die Hände auf und sprach: „Was willst du von mir, was hast du mit mir vor, Vater?“ „Die Pflicht fordert von mir“, sprach der König, „daß ich einen meiner Söhne der Diachbha zu geben habe, und weil du heute abend der letzte warst, mußt du gehen.“ „Dann will ich gehen“, sprach der Sohn. „Gib mir eine Ausrüstung für die Wanderung in die weite Welt.“ Die Ausrüstung wurde gebracht, und Sean Ruadh legte alles an. Zuletzt gab ihm der Vater noch ein schwarzes Roß, das so schnell war, daß es den Wind vor sich überholen und den Wind hinter sich weit zurücklassen konnte. Sean Ruadh bestieg das Roß und ritt davon, ohne zu rasten und zu ruhen.
Eines Morgens nahm er ein paar alte Kleider, die er in seinem Bündel am Sattel hatte, heraus, zog sie an, ließ sein
Pferd im Wald zurück und ging auf eine Lichtung.
Er mußte nicht lange warten, bis ein fremder König heranritt und zu ihm sprach: „Wer bist du, und wohin gehst du?“ „Oh“, sagte Sean Ruadh, „ich streife nur so umher, ich weiß nicht, was ich tun soll, und habe kein Ziel.“
„Wenn es so mit dir steht“, meinte der König, „dann komm mit mir.“
„Wozu soll ich mit dir gehen?“ fragte Sean Ruadh.
„Ich habe eine große Herde Kühe“, sagte der König, „und ich habe keinen Hirten für sie. Doch habe ich noch eine andere Sorge und einen großen Kummer. Meine Tochter wird nämlich bald eines schrecklichen Todes sterben, denn tief ins Meer lebt eine riesige Seeschlange, und dieses Ungeheuermußallesieben Jahreeine Königstochterbekonmmen, die es verschlingt. Alle sieben Jahre taucht das Untier aus dem Meere auf, um seinen Tribut zu fordern, und dieses Mal ist die Reihe an meiner Tochter. An welchem Tag genau das Ungeheuer auftauchen wird, wissen wir nicht. Das ganze Land trauert mit mir um mein unglückliches Kind.“ „Vielleicht wird einer kommen, der sie retten wird“, sprach Sean Ruadh.
„Ach“, sprach der König, „es ist schon ein ganzes Heer von Königssöhnen da. Alle haben versprochen, sie zu retten, aber ich fürchte, keiner von ihnen wird den Kampf mit der Seeschlange bestehen.“ Sean Ruadh kam mit dem König überein, daß er ihm sieben Jahre dienen wolle, und ging mit ihm heim. Ani nächsten Morgen trieb Sean Ruadh des Königs Kühe auf die Weide. Nun aber lebten nicht weit von der Burg des Königs drei Riesen. Sie hausten in drei Schlössern. Sean Ruadh trieb die Herde bis zum Weideland der Riesen, stieß ein Stück der Umfassungsmauer um und ließ die Kühe hinein. Das Gras war sehr hoch und dreimal so gut wie auf den besten Weiden des Königs. Als Scan Ruadh nun dasaß und die Kühe hütete, kam ein Riese auf ihn zu und schrie laut: „Ich weiß nicht, soll ich dich in die Lüfte blasen, daß du in tausend Stücke zerfällst, oder soll ich dich mit einem Bissen verschlingen!“ „Pralle nicht“, sprach Sean Ruadh, „du sollst wissen, daß ich hergekommen bin, dir das Lebenslicht auszublasen.“ „Welche Art des Kampfes willst du?“ fragte der Riese. „Auf den grauen Steinen oder mit scharfen Schwertern?“
„Kämpfen will ich mit dir auf den grauen Steinen!“ rief Sean Ruadh, „wo deine ungeschlachten Beine immer tiefer einsinken, meine aber oben bleiben werden.“ Sie fingen an zu kämpfen. Beim ersten Mal drückte Sean Ruadh den Riesen bis zu den Knien zwischen die harten grauen Steine, beim zweiten bis zum Gürtel und beim dritten bis zu den Schultern.
„Halt ein! Zieh mich raus!“ schrie der Riese. „Ich will dir auch mein Schloß und alles, was ich besitze, geben. Mein Lichtschwert will ich dir geben, das jeden Gegner mit einem einzigen Streich tötet. Mein schwarzes Pferd will ich dir geben, das schneller ist als der Wind. All dies findest du in meinem Schloß.“
Sean Ruadh tötete den Riesen und ging hinauf zum Schloß. Dort sprach die Magd zu ihm: „Sei von Herzen willkommen, du hast mich aus der Gewalt des schrecklichen Riesen befreit. Komm mit mir, ich will dir all seine Schätze zeigen.“
Sie öffnete die Tür zur Kammer des Riesen und sagte: „Hier sind die Schlüssel des Schlosses. Alles ist dein.“ „Behalte sie, bis ich wiederkomme. Ich lege mich jetzt zurrt Schlafe nieder. Wecke mich bei Sonnenuntergang“, sprach Sean Ruadh und legte sich in des Riesen Bett. Er
schlief, bis die Sonne sich dem Untergang neigte. Dann weckte ihn die Magd, und er trieb des Königs Herde nach Hause. Noch nie hatten die Kühe soviel Milch gegeben wie an diesem Abend. Sie gaben soviel Milch wie sonst in einer Woche.
Sean Ruadh aber ging zum König und fragte: „Ist die schreckliche Seeschlange wieder aus dem Meere aufgetaucht?“
„Nein, noch ist meine Tochter am Leben“, antwortete der König. „Aber wer weiß, vielleicht kommt das Ungeheuer schon morgen.“
„Vielleicht kommt es auch morgen nicht, sondern erst an
einem anderen Tag“ , sprach Sean Ruadh und ging wieder in den Stall. Und der König hatte keine Ahnung, wie stark Sean Ruadh war, denn er ging barfuß, zerlumpt und abgerissen.
Am zweiten Morgen trieb Sean Ruadh des Königs Kühe auf des zweiten Riesen Land. Auch dieser kam herausgerannt mit denselben Fragen und Drohungen wie der erste, und der Kuhhirte gab die gleichen Antworten wie am Tage zuvor. Wieder fingen sie an zu kämpfen, und als der Riese bis zu den Schultern in dem harten grauen Felsen steckte, sprach er: „Wenn du mir das Leben schenkst, will ich dir mein Lichtschwert und mein rotes Pferd
eben.“
„Wo ist dein Lichtschwert?“ fagte Sean Ruadh.
„Es hängt über meinem Lager“, antwortete der Riese.
Da lief Sean Ruadh zum Schloß des Riesen, nahm das Schwert von der Wand, und laut schrillte das Schwert, als er es packte, doch er ließ es nicht los, eilte zum Riesen zurück und fragte: „Wie kann ich des Schwertes Schneide prüfen?“
„An einem Stock“, war die Antwort.
„Keinen besseren Stock seh ich als deinen Hals“, sagte Sean Ruadh und schlug dem Riesen den Kopf ab. Darauf ging er wieder in das Schloß und hing das Schwert auf. „Segen über dich, daß du den Riesen getötet.“ rief die Magd. „Komm, und ich will dir all seine Schätze zeigen.“ In diesem Schloß fand Sean Ruadh noch größere Schätze als im ersten. Wieder gab er der Magd, nachdem er alles gesehen hatte, die Schlüssel, damit sie diese für ihn aufbewahre, bis er- sie brauche. Wieder schlief er wie ans Tag zuvor. Am Abend trieb er wieder die Herde nach Hause. Der König aber sprach: „Seit du hier bist, lacht mir das Glück. Meine Kühe haben heute dreimal soviel Milch gegeben wie gestern.“
„Kam das Ungeheuer heute?“ fragte Sean Ruadh.
„Auch heute ist es nicht aus dem Meer aufgetaucht“, antwortete der König, „aber es kann sein, daß es morgen kommt.“
Ani dritten Morgen trieb Sean Ruadh des Königs Kühe aus, und er trieb sie auf das Land des dritten Riesen. Auch dieser kam sogleich herbei und kämpfte mit dem Hirten einen noch wilderen Kampf als die beiden anderen. Aber Sean Ruadh stieß den Riesen bis zu den Schultern in die grauen Steine.
Da rief der Riese: „Laß mich am Leben, und ich schenke dir mein Lichtschwert und mein weißes Pferd mit der silbernen Mähne, das schneller ist als der Gedanke des Menschen.“
Sean Ruadh aber tötete den Riesen. Auch in dessen Schloß wurde er von der Magd mit Freude und Segenswünschen empfangen. Sie zeigte ihm alle Schätze und übergab ihm die Schlüssel. Doch auch diese ließ er ihr zur Bewahrung, his er sie brauchen würde.
Am Abend gaben des Königs Kühe noch mehr Milch als zuvor.
Als der vierte Tag gekommen war, zog Sean Ruadh wieder mit der Herde aus. Er machte halt vor dem Schloß des ersten Riesen, und die Magd mußte ihm das Gewand des Riesen bringen. Dieses war tiefschwarz. Er legte es an und
war schwarz wie die Nacht, und er gürtete sich das Lichtschwert um. Dann bestieg er das schwarze Roß, das schneller war als der Wind, und zwischen Himmel und Erde dahinsausend machte er nicht eher halt, als bis er zum Meeresstrand kam. Dort sah er Hunderte und aber Hunderte von Königssöhnen, die alle den sehnlichen Wunsch hatten, des Königs Tochter zu retten. Zugleich aber hatten sie solche Angst vor dem schrecklichen Ungeheuer, daß sie sich nicht in seine Nähe trauten.
Als Sean Ruadh die Königstochter und die zitternden Ritter gesehen hatte, ritt er auf seinem schwarzen Roß zum
Schloß, und der König erblickte einen schönen Fremdling, der zwischen Himmel und Erde heranritt und vor ihm halt machte.
„Ist am Meeresufer ein Markt oder ein großes Kampfspiel ?“ fragte der Fremde.
„Hast du nicht gehört“, antwortete der König, „daß heute ein Ungeheuer, die große Seeschlange aus dem Meer auftauchen wird, um meine Tochter zu verschlingen ?“ „Nein, ich habe nichts vernommen“, sprach der Fremde, wandte sein Roß und verschwand. In kurzer Zeit war der schwarze Reiter bei der Königstochter, die allein auf einem Felsen über dem Meere saß. Wie sie den Fremden erblickte, dachte sie, er sei der schönste Mann auf Erden, und ihr Herz frohlockte.
„Hast du denn keinen, der dich retten kann fragte der Reiter.
„Nein, niemanden“, antwortete die Königstochter.
„So erlaube, daß ich mein Haupt in deinen Schoß lege, bis das Ungeheuer kommt, dann wecke mich auf.“ Er legte sein Haupt in ihren Schoß und fiel in tiefen Schlaf. Doch während er schlief, nahm die Königstochter drei Haare von seinem Haupt und barg sie an ihrem Busen. Kaum hatte sie das getan, da tauchte das Ungeheuer aus dem Meere auf. Es war groß wie eine Insel, und während es herankam, blies es das Wasser gen Himmel. Sie weckte den Fremden, und dieser sprang in die Höhe. Die große Seeschlange näherte sich der Königstochter und riß den Rachen auf, so weit wie ein Brückenbogen.
Aber schon stand der schwarze Ritter da und rief: „Diese Jungfrau gehört inir, rühre sie nicht an!“
Dann zog er sein Lichtschwert und hieb dem Ungeheuer mit einem einzigen Streich das Haupt ab. Aber siehe, das Haupt fuhr zurück an seinen Platz und wuchs wieder an. In einem Augenblick hatte der Seedrache sich umgewendet und eilte ins Meer zurück. Und im Forteilen schrie er
noch: „Morgen werde ich wiederkommen und die ganze Welt verschlingen !“
„Vielleicht“, sprach der schwarze Ritter, „wird ein anderer als ich dir hier entgegentreten.“
Sean Ruadh aber bestieg sein schwarzes Pferd und war auf und davon, ehe die Königstochter ihn hindern konnte. Und ihr Herz war traurig, als sie ihn schneller als der Wind zwischen Himmel und Erde davoneilen sah. Sean Ruadh ritt zum Schloß des ersten Riesen, brachte das Pferd in den Stall, legte Kleider und Schwert ab. Dann schlief er auf des Riesen Bett, bis die Magd ihn am Abend weckte. Und er trieb die Kühe heim wie jeden Tag. Er begegnete dem König und fragte: „Wie ist es deiner Tochter heute ergangen ?“
„Oh, das Ungeheuer stieg aus dem Meer, um sie zu holen, aber ein wunderschöner schwarzer Held kam zwischen Himmel und Erde angeritten und rettete sie.“ „Wer ist denn dieser Held gewesen?“ „Unter den Rittern sind viele, die behaupten, sie hätten sie
gerettet. Aber noch ist meine Tochter nicht in Sicherheit,
denn morgen wird der Meeresdrache wiederkommen.“ „Fürchte dich nicht, sicher kommt morgen ein anderer Ritter.“
Früh am nächsten Tag trieb Sean Ruadh des Königs Herde auf das Land des zweiten Riesen. Er machte halt vor dem Schloß, und die Magd mußte ihm das Gewand des zweiten Riesen bringen. Dieses war rot. Er legte es an und war rot wie die aufgehende Sonne. Und er gürtete sich das Lichtschwert um. Dann bestieg er das rote Roß, das schneller war als der Blitz, und zwischen Himmel und Erde dahinsausend machte er nicht eher halt, als bis er zum Meeresstrand kam, wo er wieder die Königssöhne und Ritter zittern sah. Die Königstochter aber saß allein auf dem Felsen.
Wieder ritt Sean Ruadh zum König und fragte: „Ist am Meeresufer ein Markt oder ein großes Kampfspiel?“ Und wieder erhielt er die gleiche Antwort wie am Tag zuvor. „Ist denn kein Held da, sie zu retten?“ „Ritter und Königssöhne sind genug da“, antwortete der König. „Alle versprechen, sie zu retten, und alle behaupten, sie wären sehr tapfer, doch keiner wird zu seinem Wort stehen und dem Ungeheuer entgegentreten, wenn es sich aus dem Meer erhebt.“ Ehe der König sich versah, war der Fremde verschwunden. In kurzer Zeit war der rote Reiter bei der Königstochter, die allein auf dem Felsen über dem Meer saß.
„Hast du denn keinen, der dich retten kann?“ fragte der Reiter. „Nein, niemanden.“ „So erlaube, daß ich mein Haupt in deinen Schoß lege, bis das Ungeheuer kommt, dann wecke mich auf.“ Er legte sein Haupt in ihren Schoß und fiel in tiefen Schlaf. Doch während er schlief, nahm die Königstochter die drei Haare aus ihrem Busen, verglich sie mit seinem Haar und sprach zu sich selbst: „Es ist derselbe Ritter, der gestern hier war.“
Als der Seedrache über das Wasser heranbrauste, weckte die Königstochter den Fremden. Der sprang auf und eilte zum Ufer. Noch schneller als am Tag vorher raste das Ungeheuer heran. Noch mehr Wasser warf es in die Höhe, und mit aufgerissenem Rachen kam es an Land. Wieder stellte sich Sean Ruadh in den Weg und schlug mit einem Schwertstreich das Ungeheuer in zwei Hälften. Doch die beidem Hälften schlossen sich wieder und waren eins wie zuvor.
Das Untier wandte sich zum Meer und schrie: „Alle Helden auf Erden werden die Jungfrau morgen nicht vor mir retten.“
Sean Ruadh schwang sich auf sein Pferd und ritt zurück. Fort war er und ließ die Königstochter in Verzweiflung zurück. Sie raufte sich ihr Haar und vergoß Ströme von Tränen über den Verlust des roten Ritters, des einzigen Mannes, der Mut genug besessen hatte, für sie zu kämpfen. Sean Ruadh aber zog im Schloß seine alten Kleider an und trieb die Kühe heim wie jeden Abend. Der König erzählte ihm: „Ein fremder Ritter, ganz in Rot gekleidet, hat heute meine Tochter gerettet. Doch sie weint sich die Seele aus dem Leib, weil er fort ist. Aber noch ist meine Tochter nicht in Sicherheit, denn morgen wird der Meeresdrache wiederkommen.“ „Fürchte dich nicht, denn morgen kommt sicher wieder ein anderer Ritter“, antwortete Sean Ruadh. Früh am nächsten Tag trieb Sean Ruadh die Herde auf das Land des dritten Riesen. Er machte halt vor dem Schloß, und die Magd mußte ihm das Gewand des dritten Riesen bringen. Dies war weiß mit Gold und Silber. Er legte es an und war strahlend schön wie der lichte Tag. Er gürtete sich das Lichtschwert um und bestieg das weißsilberne Pferd, das schneller ist als der Gedanke des Menschen. Als er fort reiten wollte, sprach die Magd zu ihm: „Heute wird das Ungeheuer so voller Wut sein, daß niemand es aufhalten kann. Wenn es sich aus dem Wasser heben wird, werden drei große Schwerter aus seinem Rachen kommen, und diese vermögen die ganze Welt in Stücke zu hauen und zu vernichten, wenn sie ihm zur Schlacht entgegenträte. Nur einen Weg gibt es, den Seedrachen zu überwinden. Nimm diesen roten Apfel, steck ihn an deinen Busen, und wenn das Untier vom Meer gegen dich anstürmt, dann wirf ihm den Apfel in den offenen Rachen, und du wirst sehen, der große Drache wird sich auflösen und auseinander fließen und auf dem Strand sterben.“ Sean Ruadh flog auf seinem weißsilbernen Roß zwischen Himmel und Erde dahin, dreimal so schnell wie am Tage zuvor. Wieder sah er die Jungfrau allein auf dein Felsen sitzen. Wieder sah er die zitternden Königssöhne und Ritter in der Ferne warten, um alles mit anzuschauen, was geschehen würde. Sean Ruadh ritt wieder zum König und fragte: „Ist am Meeresufer ein Markt oder ein großes Kampfspiel?“ Und wieder erhielt er die gleiche Antwort wie am Tage zuvor. Ehe der König sich versah, war der Freinde verschwunden.
In kurzer Zeit war der weiße Ritter bei der Königstochter. „Hast du denn keinen, der dich retten kann?“ „Nein, niemanden.“
„So erlaube, daß ich mein Haupt in deinen Schoß lege, bis das Ungeheuer kommt, dann wecke mich auf.“ Er legte sein Haupt wieder in ihren Schoß und fiel in tiefen Schlaf. Doch während er schlief, verglich die Königstochter die drei Haare mit seinem Haar und sprach wieder „Es ist derselbe Ritter, der mich schon zweimal gerettet hat.“
Als der Seedrache kam, weckte die Königstochter den Fremden. Der sprang auf die Füße und lief zum Meeresufer. Furchtbar war das Untier anzuschauen. Es war von ungeheurer Größe und hatte ein Maul so riesig, daß es die ganze Welt hätte verschlingen können, und aus dem Maul kamen drei scharfe Schwerter hervor. Mit wildem Brüllen
stürzte sich das Untier Sean Ruadh entgegen. Aber dieser schleuderte ihm den roten Apfel in den Rachen. Da fiel das Untier am Strande nieder, löste sich auf und floß auseinander.
Sean Ruadh sprach zur Königstochter: „Dieser Drache wird niemals mehr Unheil anrichten.“ Die Königstochter lief zu ihm hin und wollte ihn festhalten. Aber er saß schon auf dein weißsilbernen Roß und war auf und davon, zwischen Himmel und Erde dahinreitend, ehe sie ihn hindern konnte. Sie hatte jedoch einen seiner Stiefel aus purem Silber so fest umklammert, daß Sean Ruadh ihn in ihrer Hand zurücklassen mußte.
Als er an diesem Abend die Kühe heim trieb, kam der König aus dem Schloß, und Sean Ruadh fragte: „Was gibt es Neues von dem Seedrachen?“
„Oh“, sprach der König, „ich habe nichts wie Glück, seit du gekommen bist. Ein Ritter, schön wie der lichte Tag auf einem weißsilbernen Roß, zwischen Himmel und Erde dahinreitend, hat heute das Ungeheuer vernichtet. Meine Tochter ist für alle Zeiten vor ihm sicher. Doch sie ist in großer Trauer und weint bittere Tränen, weil ihr Retter verschwunden ist.“
Am Abend dieses Tages gab es ein Fest in dem Königsschloß, wie es noch nie eins gegeben hatte. In den Hallen ergingen sich die vielen Königssöhne und Rittet‘, und Jeder von ihnen prahlte: „Ich bin der, der die Königstochter errettet hat.“
Der König aber sandte nach dem alten blinden Weisen und fragte, was er tun sollte, uni den Mann zu finden, der seine Tochter wirklich errettet habe.
Da sprach der alte Weise: „Laß Botschaft ergehen an alle Welt, daß der Mann, an dessen Fuß der silberne Stiefel paßt, der Held sei, der den Drachen vernichtet habe, und daß du ihm deine Tochter zur Frau geben wolltest.“ Da ließ der König Botschaft und Kunde ausgehen durch alle Lande, jeder Mann solle kommen und den Stiefel zur Probe anlegen. Aber er war zu groß für die einen und zu klein für die andern.
Da sich nun keiner gefunden hatte, dem der Stiefel gepaßt hätte, sprach der alte blinde Weise: „Nun haben alle versucht, den Stiefel anzuziehen, nur der Kuhhirte nicht.“ „Ach, der ist ja immer mit den Kühen unterwegs“, sagte der König, „den brauchen wir nicht zu fragen.“
„Schicke trotzdem zwanzig Mann aus“, sprach der alte Weise, „und laß den Kuhhirten holen.“ Da sandte der König zwanzig Mann aus, und die fanden
den Hirten im Schatten einer Mauer schlafend. Da machten sie sich daran, ein Heuseil zu drehen, um ihn zu binden. Aber er erwachte und hatte zwanzig Seile gedreht, bevor sie eines fertig hatten. Dann band er die zwanzig zu einem Bündel zusammen und hing das Bündel an der Mauer auf. Im Schloß warteten sie lange Zeit. Als die zwanzig mit dem Kuhhirten noch immer nicht kamen, da sandte der König schließlich zwanzig weitere aus, um zu sehen, warum es so lange dauere. Als sie den Kuhhirten gefunden hatten, begannen auch diese ein Heuseil zu drehen. Doch es erging ihnen wie den andern. Auch sie wurden in ein Bündel zusammengebunden und zu den andern zwanzig gehängt.
Als nun weder die einen noch die andern heimkamen, sprach der alte blinde Weise zum König: „Geh jetzt nur selbst. Wirf dich vor dem Kuhhirten auf die Knie, denn er hat je zwanzig Mann in zwei Bündel aneinandergebunden.“
Da ging der König auf die Weide und warf sich vor dem Kuhhirten nieder.
Der hob ihn sogleich auf und fragte: „Was soll das bedeuten ?“
„Komm mit und lege den silbernen Stiefel an!“
„Wie kann ich mitgehen, wenn ich hier meine Arbeit zu tun habe?“
„Oh, das soll dich nicht hindern, du kommst bald genug zurück, um deine Arbeit fertig zu machen.“ Sean Ruadh band die vierzig Mann los und ging mit dem König. Als er zum Schloß kam, sah er des Königs Tochter in ihrer Kammer im Turm am Fenster sitzen, und der silberne Stiefel stand auf der Fensterbank vor ihr. Im selben Augenblick sprang der Stiefel durch die Luft und legte sich von selbst an seinen Fuß. Die Königstochter aber lief die Treppen hinunter und umarmte und küßte ihn. Der ganze Platz aber stand voller Königssöhne und Ritter. „Was wollen diese Männer hier?“ fragte Sean Ruadh.
„Sie haben versucht, den Stiefel anzuziehen, und hofften, daß er passe.“
„Macht euch hinweg, ihr Feiglinge, ihr Prahler“, rief Sean Ruadh, „damit mein Zorn nicht über euch komme.“
Da stoben sie in alle Winde davon. Der König aber sandte Boten an alle Könige und Königinnen, auch an Diarmuid, den Sohn des obersten Herrschers des Lichts. Sie sollten zur Hochzeit seiner Tochter mit Sean Ruadh kommen. Nach der Hochzeit ging Sean Ruadh mit seiner Frau in das Königreich der Riesen und lebte da und ließ seinen Schwiegervater König in seinem eigenen Land bleiben.
[Märchen aus Irland]

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